Ein Chorleiter nervt gewaltig

Eigentlich sollte unser Treffen mit Hartz IV-Empfängern aus Volker Löschs „Marat“-Chor nur dazu dienen, diese hinterher in Audioporträts vorzustellen und sie derart der Anonymität des Chorischen zu entreißen. Im Zuge des Interviews ereignete sich aber noch etwas, von dem sich schwerlich schweigen lässt. Eine Randglosse mit ersten, unkommentierten O-Tönen der Chormitglieder als Hördateien am Ende.

Es war schon eine merkwürdige Konstellation, die sich da am Samstagabend gegen 22 Uhr auf einer düsteren Probenbühne in der Komödie am Kurfürstendamm ergeben hatte: Zehn von der nachmittäglichen Anreise aus Hamburg erschöpfte Mitglieder des Hartz IV-Chores aus Volker Löschs „Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?“ trafen auf drei von drei Wochen tt09 nicht minder erschöpfte Redakteure des tt-Blogs.

Suggestivfragen und andere Interventionen

Und vielleicht waren es müdigkeitsbedingte Unkonzentriertheiten auf beiden Seiten, die Chorleiter Bernd Freytag dazu brachten, sich wieder und wieder lenkend in das Gespräch einzuschalten. „Es geht nicht um etwas Persönliches oder Privates“, fuhr er einer Choristin ins Wort, als diese Persönliches oder Privates preisgeben wollte, „Das Stück kommt in Euren Antworten gar nicht vor“, beschied er anderen, die, gefragt nach ihrer Motivation, überhaupt aufs Theater zu gehen, erstmal Grundsätzliches sagten. „Du würdest also sagen: Aufklärung? Dass die da unten dich brauchen, um irgendwas zu lernen?“ versuchte er per Suggestivfrage einen Choristen von seinem allzu klassischen Theaterbegriff abzubringen.

Vermeintliche Unterreflektiertheit

Die vermeintliche Unterreflektiertheit seiner Choristen setzte dem Chorleiter sichtbar zu, aber auch Überreflektiertheit kam nicht wirklich gut an: „Nun nimm‘ doch nicht die ganze Interpretation vorweg“, beschied er einer Choristin, die, selbst ausgebildete Schauspielerin, über Löschs Peter Weiss-Interpretation dozierte.

Ein schaler Beigeschmack bleibt

Es kann einfach, und das ist tief empfunden, nicht sein, dass erwachsene Menschen sich von einem Dritten sagen lassen müssen, wie sie die Preisgabe ihrer Ansichten und Biographie (und um die sollte es, gerade als Kontrapunkt zum chorischen Auftreten im Stück, ja gehen) zu gestalten haben. Die erlebte Situation hinterlässt einen mehr als schalen Beigeschmack, der nur durch eins abgemildert wurde: Die Choristen ließen sich durch ihren Leiter nicht wirklich stören und erzählten einfach weiter, was sie (und die Redakteure) für erzählenswert hielten. Dafür vielen Dank!

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Einen ausführlichen O-Ton-Beitrag mit weiteren Choristen zur Probenarbeit und der Inszenierung finden Sie hier.

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Johannes Schneider

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