Fiktion // Text

Gedanken über eine Verhandlung von Wirklichkeit – Zeugenschaft und Fiktion im Text und im Theater

In zwei Texten versucht Oliver Franke die Diskrepanz zwischen Lebenswirklichkeit und ihrer ästhetischen Aufbereitung im Theater zu beleuchten. Ausgehend von dem Hörspiel „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz und Nicolas Stemanns Inszenierung „Die Schutzbefohlenen“ fokussiert er schwerpunktmäßig Aspekte der Fiktionalisierung und der Zeugenschaft. 

Teil I: Das Aushandeln von Wirklichkeit in der Fiktion….und umgekehrt 

„Das ist meine Geschichte. Ich bitte Sie, mir zu glauben, ich weiß, dass meine Lebenswirklichkeit für Sie als Mitteleuropäer fremd und unverständlich sein mag, aber ich bitte Sie, mich zu verstehen und mir zu glauben, soweit es ihnen möglich ist.“ (Wolfram Lotz, „Die lächerliche Finsternis“)

In dem Prolog des Hörspiels „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz tritt der somalische Pirat Ultimo Michael Pussi vor das Hamburger Landgericht und bekennt sich zu einem gescheiterten Entführungsversuch eines deutschen Frachters. Ultimo fungiert hierbei als Zeuge der Tat und legt gleichsam Zeugnis ab über seine Herkunft und sein Leben in der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Die Verteidigungsrede des jungen Piraten schrieb Lotz als Antwort auf den Gerichtsprozess um zehn somalische Männer, die 2010 das deutsche Containerschiff Taipan entführten. Lotz’ Empörung gilt der Anmaßung einer Verurteilung von Menschen „über deren Lebensrealität wir nichts wissen“ und deren Dekontextualisiserung in dem Rechtssystem eines fremden Landes von einer eurozentristischen, selbstgerechten Arroganz zu zeugen scheint.

In Anleihen an Joseph Conrads Erzählung „Herz der Finsternis“ begibt sich der Hauptfeldwebel der Bundeswehr Oliver Pellner zusammen mit dem Unteroffizier Stefan Dorsch auf die Suche nach dem verschollenen Oberstleutnant Deutinger. Bereits Conrad zeichnet ein Bild einer Kolonialmacht, die sukzessive dem Wahnsinn und der Dekadenz verfällt. Auch Lotz greift dieses Thema auf und erweitert es formal und inhaltlich durch die Auflösung von Faktizität und Fiktion. Er erzeugt in seinen Texten Reibungsflächen, in denen sich Fiktion und Wirklichkeit niemals angleichen bzw. zur Deckung gebracht werden können. Vielmehr prallt ‚Lebensrealität’ und Imagination aufeinander und erzeugt ein dynamisches Spannungsfeld, in welches der Rezipient hineingeworfen wird, um sich selbst innerhalb dieser zwei antithetischen Bezugspole zu verorten.

Wie kann man als mitteleuropäischer Schriftsteller das Leben eines somalischen Piraten greifen und künstlerisch umsetzen? Wie kann man die komplexen politischen Interdependenzen und Verästelungen der globalisieren Welt und ihre konkreten Konsequenzen auf die Lebenswelt der benachteiligten Mehrheit aufgreifen? Wie kann man schlussendlich diesen ganzen Fragestellungen überhaupt gerecht werden? Ist es eine Anmaßung Flüchtlings- und Kriegsschicksale aus dem eigenen begrenzten Erfahrungs- und Lebenshorizont nicht nur begreifen/vereinnahmen zu wollen, sondern auch in eine theatrale Form zu pressen und damit zu ästhetisieren?

Diese Fragen durchziehen den gesamten Text. Medialisierte Bilder des ‚Fremden’ und ‚Anderen’ aus unserem Erfahrungsalltag werden als solche benannt und speisen sich in den Text ein: da wird der Hindukusch auf einmal zu einem reißenden Fluss, der bis in den afghanischen Regenwald vordringt. Da werden Bananen angefertigt und somalische Piratenschulen besucht. Lotz flüchtet in eine radikale Fiktionalität, die stetig gebrochen wird durch Referenzen an medialisierte Fakten der Weltpolitik. Unterschiedlichste Materialien und Stoffe der Faktizität und Phantasterei werden zusammengesetzt zu einer Assemblage, die die Unmöglichkeit der EINEN Wahrheit und der EINEN Wirklichkeit plastisch vor Augen führt.

“Das Theater ist der Ort, wo Wirklichkeit und Fiktion aufeinandertreffen, und es ist also der Ort, wo beides seine Fassung verliert in einer heiligen Kollision”

So formuliert es Lotz  in seiner „Rede zum unmöglichen Theater“. Dies ist bereits in Lotz’ Textvorlage angelegt. Bereits auf inhaltlicher Ebene gerät die ausgestellte Verschränkung von Wirklichkeit und Fiktion in den Vordergrund und liefert einen Raum zur Reflexion der eigenen Weltwahrnehmung des Rezipienten. Innerhalb der Aufführungssituation, in der Akteure und Zuschauer zusammenkommen und in Beziehung zueinander treten bzw. das theatrale Ereignis zusammen mitkonstituieren, intensiviert sich die Verschränkung noch.

Wolfram Lotz umgeht eine Einfühlung in Figuren, er stellt nicht den Anspruch, ein wahrheitsgetreues Abbild von Lebensumständen fremder Länder und Kulturen lehrmeisterhaft abzubilden, vielmehr zeugt er von einer Unmöglichkeit das Andere in seiner Gänze zu durchdringen und von der Gefahr des unreflektierten Umgangs mit (Fremd-)Bildern. Die Abbildung der Wirklichkeit ist unmöglich. Fiktionalität soll als Potenzial verstanden werden, die ‚Wirklichkeit’ auf der Bühne zu verhandeln ohne gleichzeitig in einem zersetzenden, totalen Wahrheitsanspruch aufzugehen und zwangsläufig in seine Bestandteile zu verfallen.

Am Ende des Stücks taucht plötzlich Ultimos Freund und Kumpane Tofdau auf. Zusammen haben sie das Schiff kapern wollen, doch Tofdau verschwand spurlos. In einer der letzten Szenen des Stücks taucht er nun auf und fordert seinen Platz innerhalb der Geschichte ein.

„Wo soll ich denn hin? Das ist auch unsere, das ist auch meine Geschichte!“

Tofdau möchte Zeugnis ablegen, doch in diesem Stück wird ihm kein Platz eingeräumt. Das Schicksal der somalischen Piraten ist es auch, in diesem Hörspiel marginalisiert und peripher behandelt zu werden. Zunächst Mittelpunkt der Handlung, werden sie nun an die äußerste Peripherie des Handlungsrahmens gedrängt. Ihre Stimme fehlt und will nicht gehört werden. Unsere Vorstellungsbilder sind bereits gefestigt. Die Wirklichkeit hat sich bereits formiert. Der absolute Wahrheitsanspruch wird im medialen Bilderrausch zementiert. Nur eine aggressive Fiktionalisierung kann ebendiesen Totalanspruch in Frage stellen. Nur durch eine Abwendung von der Wirklichkeit können wir schlussendlich vielleicht ein wenig einer ‚Wahrheit’ näher rücken – was auch immer damit gemeint sein kann. Ist der Prozess des steten Reflektierens und Hinterfragens nicht bereits das Ziel? Kann es überhaupt einen diskursiven Endpunkt geben?

Ausblick:

Teil II: Zeugenschaft und Präsenz – Vorüberlegungen zu Nicolas Stemanns Inszenierung „Die Schutzbefohlenen“

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Oliver Franke

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