Was tun wir eigentlich, wenn wir ins Theater gehen? Und wieso bestellen manche das Taxi schon vorsorglich zur Pause? Unsere Autorin über ein skurriles Erlebnis.
Im Deutschen Theater in Berlin wird man ja als Zuschauer immer ein bisschen schlecht behandelt. Fast ungläubig schielt die erste Einlasserin an der Tür auf meine Karte, als müsste sie, also die Karte, eine Fälschung sein. Garderobe ist hier links, dort legen Sie bitte Ihre Sachen ab!, dirigiert sie mich kühl ins Zuschauerabseits. Beim eigentlichen Einlass dann gleich die zweite Ermahnungskeule: Handtaschen immer auf dem Schoß lassen, niemals auf den Boden stellen!, droht mir die Dame mit ausdrucksloser Miene. Verantwortungsvoll meine Handtasche umklammernd (das arme unschuldige Ding!), mache ich mich auf den Weg zu meinem Stuhl, an dem ich zum Glück nicht noch einmal zurecht gewiesen werde.
An diesem Abend jedoch hätte auch dies mich nicht mehr abschrecken können. Denn ich bin gekommen, um „Väter und Söhne“ zu sehen, diese ebenso zärtliche wie aufwühlende Turgenjew-Inszenierung von Daniela Löffner, die letztes Jahr zum Theatertreffen eingeladen war – und an der ich damals nur vom Sofa aus teilhaben konnte, 3 SAT preisend, dass es diese hochwertigen Aufzeichnungen fürs Fernsehen gibt. Da auf dem verbeulten Sofa vor dem Laptop sitzend, hatte ich letztes Jahr auch geweint. Um die Vergeblichkeit der Liebe, die schillernde Schönheit wirklich großer Ziele, um den widerborstig-trotzigen Zusammenhalt von Familie und die furchtbare Kleingeistigkeit der Menschen. Und bei all dem ist das wirklich nachhaltig Große dieser Inszenierung und ihrer Spieler, dass sie diese Dinge wirklich ohne die geringste Sentimentalität freilegen. Man sieht dem zu, als sei man von sehr weit hergekommen, um die Gattung Mensch zu untersuchen, wie sie zappelt und sich quält, und man sich dann, trotz allem oder genau deswegen, in sie verliebt.
Vielleicht doch bis zum Ende bleiben
Ich bin also gekommen, um zu weinen. Doch dann passiert es. Bevor es anfängt, tippt meine in die Jahre gekommene Sitznachbarin noch schnell auf ihrem Smartphone herum, wählt eine Nummer: Hör mal! Es geht bis 22.55 Uhr!, erläutert sie pikiert. Die Pause ist um 21.20 Uhr, da könntest du mich dann abholen… Ja, nicht wahr, das ist doch lang! Aber die Dame an der Garderobe sagte, dass es ein ganz kurzweiliger Abend sein soll. Also vielleicht bleibe ich ja doch noch. Ich geb dir nochmal Bescheid.
Stimme von links, vom noch mehr in die Jahre gekommenen Sitznachbarn, mischt sich ein: Ich habe das aber auch gehört, dass das ein wirklich sehr guter Abend sein soll, der ist auch zur Inszenierung des Jahres gewählt worden, letztes Jahr! Ich will einwerfen: Eben leider nicht!, lasse es dann aber, ich finde meistens, ich eigne mich nicht für solche Gespräche. Aaaach?!, krächzt es nun wieder von rechts zurück. Na dann bleibe ich vielleicht doch bis zum Ende!
Sie ist dann doch nicht geblieben und auch ich habe den ganzen Abend nicht geweint. An der Inszenierung selbst kann es nicht gelegen haben, denn alles, was an Lobpreisung bereits darüber geschrieben worden ist, über ihre Schlichtheit, den Zauber, die Nähe, all das ist auch ein Jahr später immer noch aufs Schönste wahr.
Fehlleistungen der Zuschauer
Ich gebe eher meiner Sitznachbarin die Schuld an meinen unvergossenen Tränen. Ich konnte es nicht fassen, dass man allen Ernstes vierzig Euro dafür bezahlt, also dass man fast fünfzig Euro dafür hinblättert, sich vorsätzlich und geplant in der Pause aus dem Theater entfernen zu lassen.
Natürlich, könnte man einwenden, ist diese Dame ein höchst sonderlicher Einzelfall, eine pathologische Verirrung. Doch mich beschäftigt seither die Frage, was wir tatsächlich tun, wenn wir ins Theater gehen. Welche Rolle eigentlich dem Zuschauer zukommt, in den tobenden, reformatorischen Debatten um die Theater und ihre Landschaften. Während der periodisch wiederkehrenden Legitimationskrisen wird ja immer viel darüber gesprochen, was Theater sein muss, wie es sein muss, was es zu tun und zu lassen hat. Und vor allem wird bemängelt, was es alles nicht ist, was ihm fehlt, wo es ins Leere zielt. Vielleicht konstituiert sich der Mangel des Theaters ja aber aus den Fehlleistungen seiner Zuschauer, vielleicht ist die Leere des Theaters nur die seiner Betrachter?
Diese Frage ist natürlich gemein und ich höre damit jetzt auch auf. Ich freu mich auf das Theatertreffen 2017. Ich werde mich selbst als Zuschauerin genau beobachten und dabei auf meine innere und äußere Abholung verzichten.