Seit einer Woche trifft sich unser Bloggerteam jeden Vormittag zu einer Redaktionssitzung. Diese fällt mal mehr, mal weniger lang aus. Überziehen wir gnadenlos, so liegt dies nicht daran, dass wir soviel planen (obwohl wir natürlich sehr viel planen!), sondern weil wir immer wieder über grundsätzliche Fragen diskutieren: Fragen, die das Theater allgemein betreffen, Fragen, die sich mit dem Theaterverständnis unserer Zeit und unserer Gesellschaft beschäftigen, Fragen, auf die es keine Antwort geben kann und die in uns doch so sehr arbeiten.
In einer Vorstellung, die ich während des Theatertreffens besuchte, es war Luk Percevals „Kleiner Mann, was nun?“, saß eine Frau, so um die 60 Jahre, neben mir. Kurz nach der Pause wandte sie sich mir zu und meinte:
Also dieses Jahr, nur schwere Stoffe. Das macht einen ganz traurig und betroffen, das Zugucken.
Muss das sein?
Wurde unser Gehirn in den letzten zwei Jahren nicht schon genug beansprucht von dem Phänomen „Krise“, von diesem diffusen Unwohlsein, das uns überall auflauert, sei es beim morgendlichen Zeitungslesen, auf dem Weg zur Arbeit beim Starren auf den U-Bahnfernseher? Krise, Krise, Krise! schrie und schreit es überall.
Wäre es da nicht schön, den Zuschauerraum zu betreten und für wenige Momente in eine andere Welt gezogen zu werden? Weniger Wirklichkeit, mehr Theater, Spielfreude und Phantasie! So dass man nicht schnaufen muss, sondern mal verschnaufen kann. Und nicht immer nur reine Gedankenspiele und ein distanzierter Blick auf unsere unzulängliche Welt, sondern auch mal mitfühlen und diesen kleinen angstbeladenen blutpumpenden Klumpen mal wieder so richtig ausdehnen dürfen bis in den Bauchraum. Das Herz benutzen und spüren – nicht die Angst.
Sehnen wir uns wirklich danach im Theater stets mit der Wirklichkeit konfrontiert zu werden? Kann allein diese Konfrontation in die Realität eingreifen oder ist es nicht eher naiv zu glauben, dass ein behäbiges Medium wie das Theater auch nur irgendetwas in der Welt verändern könnte? Zumal es meist nur das Bildungsbürgertum, den aufgeklärten, zeitungslesenden Menschen erreicht.
Zweifel sind ja nichts Schlechtes, hab ich neulich in Peter Ustinovs Buch „Achtung! Vorurteile“ gelesen. Und deshalb hab ich meine Zweifel niedergeschrieben. Nun bitte ich euch, sie zu kommentieren, zu reduzieren, aus der Welt zu schaffen oder vielleicht auch einfach zu bestätigen.
1.
Je länger ich hier beim Theatertreffen bin, desto mehr dämmert’s mir, dass Theater immer noch einen aufklärerischen Anspruch hat. Das war mir irgendwie nicht mehr so klar.
2.
Die in diesem Beitrag angesprochenen Fragen sind spannend, da sie sich mit dem Selbstverständnis des Theaters beschäftigen. Dabei drängt sich zuerst eine grundlegende Frage auf:
Muss Theater mehr können als unterhalten, zerstreuen und ablenken (für Besucher) oder einen Raum für Selbstverwirklichung bieten (für Autoren, Schauspieler und Theatermacher)?
Ich finde, ja. Allerdings, ein Theaterabend wird bestimmt keinen Einfluss auf gesellschaftliche Verhältnisse haben, aber kann zumindest bewirken, nachhaltig individuelle Einstellungen, Haltungen, Meinungen zu ändern.
Hier stellt sich nun die Frage, in welche Richtung?
Kann es sein, dass die Thematisierung von Krisen im Theater kontraproduktiv ist? In dem Sinne, dass dies eine Ersatzhandlung ermöglicht; man konfrontiert sich intellektuell mit fiktiven, ästhetisierten Krisen, um sein Gewissen zu beruhigen, seine kognitive Dissonanz aufzulösen, und muss sich somit um die Änderung wirklicher gesellschaftlicher Verhältnisse nicht mehr kümmern.
3.
Life and Times – Episode 1 did this for me. They offered room to think about big concepts and important matters (coming together, memory and family for instance) but they also entertained. They made me think about my life but it wasn’t torture.
I think you’ll be pleasantly surprised by Die Stunde da wir… I read it and it shouldn’t hammer in problems, unless, of course, the director takes it in a totally different direction.
Chin up, Elisabeth. And maybe listen to a little Tina Turner. Or the Ronettes. Works like a charm
🙂
4.
Meine Meinung ist da radikal anders: Ich erwarte vom Theater, von der Kunst im Allgemeinen, daß sie mich so sehr in meinen Grundfesten erschüttert, wie das überhaupt irgendwie möglich ist. Soll heißen: Mich immer und immer wieder mit allen ihm möglichen Mitteln zur Neuüberprüfung dessen zwingen, von dem ich glaube, daß es „so“ oder „so“ ist.
Theater muß deshalb extrem sein, wie auch das Kino ist es ein Medium des Exzesses. Damit meine ich nicht müde Provokationsorgien à la schwingende Schniedel oder viel Blut und so. Ich meine damit, daß die Konsequenz, in der das Theater universelle – oder ganz spezielle – Fragen abhandelt, bis ins letzte fortgeführt werden muß, ohne Rücksicht auf Verluste.
Da bin ich ganz idealistisch: Das Theater kann uns die Augen öffnen. Ich spreche aus eigener Erfahrung.
Und wenn diese geöffneten Augen dazu führen, daß wir nicht mehr glücklich sind, daß wir keine Freude mehr haben, daß uns diese Welt als grausam und kalt und fürchterlich erscheint – dann sei dem so.
Da die Welt jedoch nicht nur aus dem Häßlichen und dem Gemeinen besteht, sondern auch etwas wie Schönheit in sich birgt, wird uns das Theater auch für diese Dinge die Augen öffnen können.
Oder für die einfachen Dinge. Die banalen Dinge. Es kann das Gräßliche im vermeintlich Schönen und umgekehrt aber auch das Schöne im vermeintlich Gräßlichen sichtbar machen.
Vielleicht schafft gute Kunst einfach genau das: Es schärft unsere Sinne, erhöht die Kontraste und läßt uns klarer und differenzierter sehen, im Guten wie im Schlechten. Marthaler ist der Meister eines solchen Theaters. Schlingensief schafft das auch.
Und das macht dann ja auch glücklich in einer zugegeben sehr anderen Art und Weise: Den Widerspruch leben zu können, das Unvereinbare akzeptieren zu müssen, akzeptieren zu können.
Daraus ergibt sich aber auch der Umkehrschluß: Daß Theater, daß sich nicht darum bemüht, unseren Blick zu schärfen sondern im Gegenteil diesen zu verblenden, verwerflich ist. Ja, ich glaube noch an das Ideal der Aufklärung. Aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit gelangt man allerdings nur, wenn man selbst die Antworten auf bestimmte Fragen findet (und nicht diese Antworten bequem bereits gegeben werden). Theater muß deshalb auch immer ein Raum der Fragen sein. Die dürfen gern suggestiv und bohrend gestellt sein. Aber es müssen Fragen bleiben. Ein Angebot. Schau mal, so könnte es sein, aber auch so. Was meinst Du? Dann ist man gezwungen, nachzudenken. Gutes Theater findet nicht im Saal statt, sondern danach. Wenn die eingepflanzten Fragen weiterrattern. Und dann ist das auch unterhaltend. Wenn mein Hirn nicht rattert, erst dann nenn ich das doch Langeweile. Insofern:
Ja, Theater kann (zumindest theoretisch) die Welt verändern, indem es die Menschen verändert. Wer diese Ansicht als naiv abtut, hat bereits aufgegeben.
Aus dieser Offenheit heraus, aus dem Eingeständnis, daß ich als einzelner Mensch nicht „wissen“ kann, sondern mein Wissen immer wieder überprüfen sollte, überprüfen muß, ergibt sich dann auch von automatisch eine gewisse Haltung, die den Menschen mit all seinen Schwächen respektiert, ohne ihn zu hassen oder zu verachten. Insofern sind Theater und Kunst natürlich auch immer politisch. Wer sich dazu entscheidet, den Zuschauer einfach mal einzulullen, der macht damit auch Politik, ob böswillig oder einfach unwissentlich.
Wie immer hoffe ich, daß meine bewußt radikal gewählten Worte Widerspruch finden.
5.
´Wer diese Ansicht als naiv abtut, hat bereits aufgegeben.´
Theater schafft Raum, um über große Themen nachzudenken.
Das hat viel mit Glauben zu tun. Damit mich Theater verändern kann, muss ich zuerst daran glauben.
Wenn ich mich zum Einen aktiv mit Theater beschäftige, verändert es mich, gibt mir Berufung, Lebensinhalt, Thema, Unterhalt. Hier stelle ich mir die Frage, inwieweit die Art, wie das Theater unsere Sinne schärft und klarer sehen läßt, abhängig von immanenten Forderungen und Erwartungen des Theaterbetriebes ist.
Kann die relativ geschlossene Welt, aus Bildungsbürgertum, aufgeklärten, zeitungslesenden Menschen unseren Blick gar verblenden?
Dann geht es andererseits um das Publikum.
Was verändern Theaterbesuche in mir?
Oder, was bringt es mir bei?
Das Unvereinbare akzeptieren zu müssen – das kann der Anspruch sein. Dafür müssen Augen geöffnet werden. Was läßt sich durch die Thematisierung von Krisen im Theater entdecken, differenzierter sehen, um den Widerspruch besser leben zu können?
6.
Den folgenden Kommentar habe ich geschrieben bevor ich eure interessanten Beiträge gelesen habe.
Gestern sah ich im 3sat die vierstündige Ausstrahlung des Kunstwerkes über das Geldsystem. „Die Kontrakte des Kaufmanns“
Ich hab es sogar aufgenommen um es in der Bildungsarbeit zu verwenden.
Was ich erlebte war ein wunderbar gespielter Wort-, Bild- und Klangteppich aus der Galle aller Betrogener und den Ergüssen der Betrüger.
Wut und Ratlosigkeit sind sicherlich ein künstlerisches Element, aber kein Karl Popper hindert Aufklärung und Erleuchtung zu verwenden.
Und nach einem Jahrhundert Kampf gegen Doppelmoral, darf die Künstlerwelt auch mal den Mut haben, den wirklichen Menschen
moralische Handläufe und Koordinaten aufzuzeichnen. Da ist mir die Theatergruppe Berliner Kompanie lieber oder sogar das Puppenstück von 1963 über
Sir Oblong-Fitz-Oblong. Bitte nicht aufgeben nach erheiternder, erhellender Kunst zu suchen, denn, den Morast sehen wir überall und finden
ohne Hilfe von ATTAC z.B. oder einfühlsamer Künstler, nicht seine Quellen.
Herzliche Grüße
Luegenjaeger
7.
Normalerweise schreibt mein Alter Ego, hier in diesem zweidimensionalen Bereich, über Kinofilme. Das Theater ist ein anderer, mir aber auch sehr lieber Bereich, ein 3D-Bereich, ein körperlicher, krümeliger, schmutziger und auch oft bekümmerter und bekümmernder Bereich.
Das ist mir schon aufgefallen.
Als könnte man nur auf dieser Betroffenheitsschiene etwas lehren, als könnte man nur mit einer Träne im Auge lernen.
Aber wer tut das schon? Wer will sich immer wieder von der gleichen Krise berichten lassen, ganz abgesehen einmal davon, dass es einfach auch immer die gleichen Leute sind, die sich im Theater treffen und diese immer gleichen Krisenberichte sehen.
Ich bin nicht in Berlin, aber ich gehe doch mal davon aus, dass ihr eine kleine eingeschworene Gemeinschaft seid, in der sich immer wieder die gleichen Leute treffen, mit dem Bier anstoßen, nicken und reden. Das sind die Menschen die wissen von der Krise – da haben wir wieder das Bildungsbürgertum – die wissen von der Krise und meinen, dass sie damit etwas ändern, es immer wieder zu thematisieren. Das ist ok, das ist gut so, auch ich bin der Meinung, dass ein Theaterabend etwas anderes ist als ein Hollywood-Jump`n Fun-Film (das habe ich eben erfunden und bin ein bisschen stolz darauf), aber die Herren Theatermenschen müssen aufpassen sich nicht zu vergraben und sie müssen aufpassen nicht allzu belehrsam und mit dem erhobenen Zeigefinger die immer gleichen Dinge aufzuzeigen.
Da ist es wieder das Gesicht mit der linken hängenden Mundhälfe und der rechten lächelnden Mundhälfte. Da lernt man auch und vielleicht etwas leichter und vielleicht gucken auch mal etwas andere Menschen vorbei und stoßen mit euch an, denn die haben das vielleicht noch nicht gesehen!