In diesem Jahr wird das Forumsprogramm beim Theatertreffen zum ersten Mal durch das Forum Kulturpolitik ergänzt. In Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung wurden dreizehn Kulturpolitiker aus ganz Deutschland für ein Wochenende nach Berlin eingeladen, um sich über Kulturpolitik auszutauschen, Impulse für die eigene Arbeit zu bekommen und natürlich: um Theater zu schauen. Zum Programm gehörte unter anderem eine Tour zu verschiedenen freien Theatern in Berlin. Wir haben das Forum Kulturpolitik dabei begleitet.
Als ich am Sonntag Morgen um kurz nach 10 Uhr mein Fahrrad vor dem Theaterdiscounter in der Klosterstraße anschließe, ist noch kein Mensch zu sehen. Ich hatte eigentlich erwartet, dass Politiker schon 15 Minuten vor Beginn einer Veranstaltung überpünktlich mit den Füßen scharren und mich deshalb auf dem Fahrrad halbtot gestrampelt – aber vielleicht sind ja die Kulturpolitiker sowas wie die Rockstars unter den Politikern. Das bestätigt mir Christian Römer, Referent für Kultur und neue Medien bei der Heinrich-Böll-Stiftung und Organisator des Kulturpolitik-Forums, der wenig später eintrifft. Man sei gestern noch ziemlich lang bei der Premierenfeier von „Faust I+II“ gewesen – und die habe ja auch erst um 24 Uhr begonnen. Christian Römer trägt Dreitagebart, ein grünes Cordjackett und zündet sich erst mal eine Zigarette an. Bevor er Referent bei der Böll-Stiftung wurde, war Römer Geschäftsführer der Neuköllner Oper und in grauen Vorzeiten selbst Teilnehmer des Talenteforums beim Theatertreffen.
„Das Ziel dieser Initiative ist es, aktuelle ästhetische und kulturpolitische Diskurse zu vermitteln, um die Diskussion der Kulturverantwortlichen „vor Ort“ zu variieren und ihre Arbeit mit neuen Impulsen und Möglichkeiten zu bereichern“, sagt Römer und schaut entspannt auf seine Armbanduhr. „Wie lang das bei denen wohl noch ging?“
Die Feier sei den Kulturpolitikern gegönnt, haben sie in den letzten Tagen auch schon einiges hinter sich: mit dem Theatertreffen-Juror Franz Wille wurde über „die Kultur im Allgemeinen“ diskutiert, um „erst einmal von den Sachzwängen zurückzutreten und sich zu besinnen, warum man Kultur überhaupt pusht“, man sprach mit einem Stadtsoziologen über kreative Gebäudenutzung für Kulturschaffende, diskutierte den Kulturinfarktund blieb bei „Faust I+II“ bis zum Ende. An diesem Sonntagvormittag sollen also Best-Pratice-Modelle der freien Theaterszene Berlins besichtigt werden. Im Theaterdiscounter soll es losgehen. Nur die Kulturpolitiker fehlen immer noch.
Ein bisschen hat es dann etwas von Klassenfahrt, als die Kulturpolitiker eine gute Viertelstunde später in kleinen Grüppchen eintrudeln und sich brav im Kreis um Christian Römer aufstellen. Eine Blitz-Vorstellungsrunde offenbart, mit wem wir es hier zu tun haben: Vom kulturpolitischen Sprecher der Grünen in Baden-Württemberg bis zu Kulturamtsmitarbeitern in mittleren Kleinstädten, von Ende zwanzig bis kurz vor dem Pensionsalter stehend, von kulturpolitischer Kurzbiographie bis zur Ämterhäufung in jüngsten Jahren, sogenanntes „Jobdropping“: „Sprecherin der Grünen, hier und da Lehrbeauftragte an der LMU, Mitarbeiterin von soundso, Promotion, Lichtinspizientin“. Allein das Parteienspektrum ist nicht sonderlich überraschend für eine Veranstaltung der Böll-Stiftung: Obwohl ausdrücklich alle Parteien eingeladen worden waren, sind es hauptsächlich Grüne, ein paar versprengte SPD- und CDUler darunter. Mitglieder der Linken, der FDP oder der Piraten sind gar nicht vertreten.
Georg Scharegg, künstlerischer Leiter und Regisseur des „TD“, wie das Haus sich als „Deutsches Theater (DT)“-Mocking nennt, führt uns vier Stockwerke hinauf im ehemaligen Fernmeldeamt von Ost-Berlin. Von Innen hält der Bau, was er von außen versprach: extrem grau, extrem klobig. Gänge, die noch Stasi-Staub zu atmen scheinen, Linoleum, Neonlicht. Scharegg führt durch Bühnen- und Technikraum, Werkstatt, Büro und Kaffeeküche. Die Kulturpolitiker nicken bei den Erklärungen und stellen höfliche Zwischenfragen, ganz als hätte man den Inszenierungsmodus einer VW-Werksbesichtigung der Kanzlerin auf den Kulturbetrieb übertragen. Im Büro gibt es dann erst mal Kaffee. Die Kulturpolitiker lassen sich erleichtert in die durchgesessenen Sofas sinken.
Scharegg beschreibt den Theaterdiscounter ironischerweise als „Marke“ für zeitgenössisches, innovatives Sprechtheater und spricht von der Notwendigkeit der Erarbeitung einer Vision, eines Alleinstellungsmerkmals, das künstlerisch ohnehin zwingend sei, ohne das eine Förderung von der Stadt aber ebenfalls unmöglich sei. Und an dem man die eigene Arbeit überprüfen müsse: Evaluation. Die Kulturpolitiker nicken. Ich bin zuerst erstaunt, dass hier so offen von der Evaluation von Kultur, gar Kunst, gesprochen wird, von Kosten/Nutzen-Analysen, aber die Kulturpolitiker scheinen sich der Zweischneidigkeit dieser Vorgehensweise durchaus bewusst zu sein. Weder die Politik noch die Verwaltung könne über künstlerische Arbeit entscheiden, sagt einer, man müsse eine Jury aus Experten in jeder Stadt haben. Die Evaluation, die in der freien Szene an der Tagesordnung ist, müsse man auch für die Stadttheater einführen, fordert Scharegg. Wie um seine Gäste etwas herauszufordern, fügt er hinzu, dass Nicolas Stemann in Faust mit ästhetischen Verfahren arbeite, die in der freien Szene entwickelt worden seien, die Arbeitsweise der stark geförderten Staatstheater sei teilweise „vampiresk“: Sie zögen die innovativen Ästhetiken aus der deutlich weniger geförderten freien Szene und ließen diese bluten. Wieder nicken alle. Ist das nur Freundlichkeit dem Gastgeber gegenüber oder werden bald reihenweise Stadttheater zugemacht und das freie Theater gestärkt?
Dann geht es auch schon weiter, der Kaffee wird noch einmal schnell nachgefüllt und heruntergestürzt, bevor es in die U-Bahn Richtung Neukölln geht. Ich nutze die Zeit, um die Kulturpolitiker näher kennenzulernen.
Carsten Werner sieht aus, wie man sich einen typischen Grünen-Politiker vorstellt: mittellanges, lockiges Haar, eine abgewetzte Lederjacke, darunter ein Ringelshirt: ein ziemlich lockerer Typ. Er kommt aus der freien Theaterszene, hat die Schwankhalle in Bremen mitentwickelt und ist jetzt Kultur- und Medienpolitischer Sprecher der Bremer Grünen. Mit seiner jetzigen politischen Tätigkeit will er vieles besser machen, was er an Unmöglichkeiten in seiner Zeit er als freier Theatermacher erlebt hat. Und auch er sagt: „Die Förderung muss durchlässiger werden, transparenter. Die Profile der Theater müssen geschärft werden, ihr Selbstanspruch muss mit der Wirklichkeit verglichen werden. Und wenn da einer seit dreißig Jahren freies Theater macht und gefördert wird, aber keiner hingeht, und es gibt diese spannende, junge Gruppe mit einem Konzept und einem Publikum, dann müssen die Förderstrukturen überdacht werden.“ Besonders wichtig sind für ihn die Stadtentwicklungsaspekte von Kultur: „Die Musikschulen und Theater müssen an die Ganztagsschulen, um die Kinder schon früh abzuholen. Das Theater kann viel von Stadtteilbibliotheken lernen: Es muss sich in den Vierteln verankern und Zugangsbarrieren abbauen.“
In der Neuköllner Oper wird der Innovations-Diskurs vom Führungsteam Andreas Altenhof und Bernhard Glocksin weiter aufgespannt: In der Wirtschaft müsse auch ungefähr ein Viertel des Geldes in Forschung und Innovation investiert werden, um marktfähig zu bleiben, warum leiste sich also die deutsche Kulturlandschaft nicht so ein Experimentierlabor? Gerade im Musiktheater verschlinge die konventionelle Oper Unmengen von Fördergeldern, und das sei auch in Ordnung so, aber ohne Innovation und damit Publikum gingen diese „Operntanker“ bald baden. Die Politik solle sich nicht darauf beschränken, den Untergang zu verwalten, sondern innovative Konzepte in ihren Städten fördern, dann käme auch das Publikum in diese „Labore“.
„Wir müssen zu den Leuten gehen und ein neues Publikum für das Theater gewinnen und erziehen“, sagt Glocksin in seinem wunderbar engagierten Monolog, „Und zwar jetzt.“ Die Neuköllner Oper jedenfalls ist hervorragend ausgelastet und macht anspruchsvolles Musiktheater im „Taschenformat“. Aber ist dieses Konzept auf jedes kleine Städtchen übertragbar?
Diese Frage treibt auch Nina Frense um, mit der ich mich auf dem Weg zum Heimathafen Neukölln unterhalte. Frense ist Juristin und Referatsleiterin für Gesundheit, Soziales, Sport, Kultur und Bildung in Mülheim an der Ruhr. Auch sie betont den Aspekt der Stadtentwicklung: „Wer städtisches Geld erhält, muss in seinem Stadtteil aktiv werden.“ Sie versteht ihre Arbeit als Dienst für die Kultur, geradezu als Verteidigung der Kulturschaffenden vor den Kämmerern. Sie erhofft sich von dem Kulturpolitiker-Treffen in Berlin neue Impulse und hofft auf Antworten auf ihre Frage: „Wie kann auch die Verwaltung kreative Lösungen finden, die der Kultur dienen und auch bei immer weiter gekürzten Etats durch kluge Verteilung mehr statt weniger ermöglichen?“
Nina Frenses und Carsten Werners Überlegungen zu einem im Stadtteil verorteten Theater finden sich im Best-Practise-Modell des Heimathafens Neukölln wieder. 2007 von ein paar engagierten Künstlerinnen „aus einem Interesse an Neukölln und den Menschen“ gegründet, wie Stefanie Aehnelt, die Geschäftsführerin des Heimathafens, erzählt, gründet sogar das künstlerische Konzept auf den Stadtteil: Vom alten Vergnügungsstadtteil Rixdorf habe man das „Volkstheater“ übernommen – aber eben aktualisiert und modern. Außerdem trägt man der Zusammensetzung der Bevölkerung Rechnung, mit Stücken wie „Arabqueen“ und „Arabboy“. Die Gründung des Theaters ist ein voller Erfolg, der sich freilich auf der prekären Arbeit und der Selbstausbeutung der Kulturschaffenden gründet, das betont Aehnelt, und natürlich auch das System, wie es jetzt ist, perpetuiert. Niemand widerspricht und verteidigt die Subventionskultur – vielleicht sind die Beispiele auch einfach zu beeindruckend.
Inka Löwendorf, künstlerische Leiterin des Schauspiels, spricht von einer Verhinderungspolitik, und beschreibt, wie der Heimathafen Neukölln Probleme mit dem Amt für die Förderung wegen der Mischnutzung hatte (es wird nicht nur Theater gespielt, sondern es werden auch Konzerte veranstaltet – „Drei Bier sind fünf Minuten Theater“). Die Kulturpolitiker schütteln die Köpfe über soviel Lebensferne ihrer Berliner Kollegen und beklatschen den Durchsetzungswillen von Löwendorf und ihrer Kollegin Stefanie Aehnelt, die sich in den Anfängen trotz Kulturpolitik durchgebissen haben – jetzt werden sie ja gefördert. Und irgendwann frage ich mich schon, ob sich hier einfach die Crème de la Crème der besonders engagierten und verständnisvollen Kulturpolitiker und -verwalter versammelt hat (man predigt also den Bekehrten?), die selbst nur Opfer der Kürzungen durch die „große“ Politik sind – oder wer dann eigentlich die Verantwortung trägt, an den vielen Problemen, die bei der Förderung von Kultur auftreten.
Später sagt Christian Römer in der U-Bahn: Er wolle die Teilnehmer des Forums dazu anregen, in Politik und Verwaltung gestalterisch, ja kreativ tätig zu werden. Man müsse Künstler, Institutionen, Politik und Verwaltung zusammenbringen, wie es exemplarisch beim Ballhaus Naunynstraße geschehen ist: wo es einen Raum gab, mit Shermin Langhoff die passende Künstlerin auftrat und der Wille der Stadt da war. Best-Practise eben.
Ich steige an der Französischen Straße aus. Die Kulturpolitiker winken freundlich. Ich habe das Gefühl, jetzt könnte wirklich etwas passieren. Oder auch nicht. Die Tour war sehr nett, der Umgang mit den Künstlern sehr nett, und es herrschte die einhellige Meinung „mehr statt weniger Kultur“ – aber was die Kulturpolitiker wirklich denken und planen, besprechen sie wahrscheinlich lieber intern.