Klischeezertrümmerung mit Tee

Das Gastspiel „Morgenland“ der Bürgerbühne am Staatsschauspiel Dresden erzählt die Lebens- und Migrationsgeschichten einiger „Dresdnerinnen und Dresdner aus dem Orient“. Dabei gelingt ein kluger, sehr charmanter Abend, findet unsere Autorin.

In „Morgenland“, einem Gastspiel der Bürgerbühne des Staatsschauspiel Dresden im Rahmen des Themenschwerpunkts „Focus Arrival Cities – Willkommensland Deutschland“, geben elf Protagonist*innen aus dem arabischen Raum Einblicke in ihre Kultur(en) – und laden dazu ein, nicht nur den Orient, sondern auch Deutschland mit anderen Augen zu betrachten.

Geschäftig geht es zu im Camp des Hauses der Berliner Festspiele. Wo gestern noch heftig über Theater im Zeichen der Flüchtlingskrise diskutiert wurde, gruppieren sich heute Zuschauer*innen um kleine achteckige Tischchen. Sie werden – orientalisch gastfreundlich – mit warmem Tee empfangen, dazu spielt eine vierköpfige Band (Anwar Aldiban, Thabet Azzawi, Abed Sarraf, Abdel Semmoudi) leise arabische Musik. In die gelöste Atmosphäre platzt ein Herr im Anzug: Diaa Eldin Soliman. Er fungiert als Moderator des Abends und führt durch die knapp zweistündige, abwechslungsreiche Collage arabischer Kultur(en) und Geschichte(n), die sich verschiedenster Mittel und Sprachen bedient. So werden im Intro Klischees und Stereotypen bedient (aus dem arabischen Raum stammende Menschen agieren in an Karneval erinnernden Kostümen vor einem überlebensgroßen Kamel) und gleich im Anschluss durch ein höchst unterhaltsames, lehrreiches und mit Witz und Charme ausagiertes Saalquiz ausgehebelt. Danach folgt ein dichtes Programm: Die Zuschauer*innen lauschen in intimen Kleingruppen und fünf Durchgängen den Lebens- und Migrationsgeschichten einzelner Protagonist*innen, bekommen ihre eigenen Namen in arabischen Schriftzeichen auf Unterarme oder Programmhefte gemalt und erhalten in kleineren Performances und Liedern, die größtenteils auf einem langen, schmalen, schlichten weißen Podium stattfinden, subjektiv gefärbte Einblicke in eine Vielzahl von Themen: die Stellung der Frau im arabischen Raum, Mutterliebe, Brautwerbung, Schwierigkeiten bei der Jobsuche in Deutschland, alte und neue Heimaten. Sehr rührend, wie Tarek Alsalloum, Ashraf Ayash, Rouni Mustafa, Ibrahim Mohamed Qadi, Sami Ramadan, Diaa Eldin Soliman und Yesmine Trigui in kurzen Texten ihre Mütter ehren. Sehr sympathisch, wie offen Yesmine Trigui über weibliche Sexualität spricht und dabei von ihren sich übertrieben echauffierenden Kollegen unterbrochen wird. Und sehr witzig, welche Eindrücke die Protagonist*innen von deutschen Kultur(en) in Handygesprächen an die entfernten Heimatländer vermitteln.

Der Regisseurin Miriam Tscholl, seit der Spielzeit 2009/10 Leiterin der Bürgerbühne des Staatsschauspiel Dresden, ist mit „Morgenland“ ein sehr charmanter Abend gelungen, der sowohl „die Deutschen“ als auch „die Araber“ ironisch auf die Schippe nimmt und Lust auf Begegnung und gegenseitiges Kennenlernen macht. Natürlich liefert die Produktion kein Panorama der gesamten arabischen Kultur(en) – wie auch? –, beschäftigt sich mit problematischen Themen wie Religion, Politik und kriegerischen Auseinandersetzungen nur am Rande und ist auch etwas zu lang geraten. Doch diese Schwächen werden aufgewogen durch die Lockerheit und lässige Gewitztheit, mit der diese „Unterrichtsstunde über das Morgenland“ Klischees zertrümmert und die Aufmerksamkeit auf individuelle Geschichten lenkt, die hohl gewordene, medial vermittelte Kategorien wie „Flüchtling“ oder „Syrer“ nicht nur nicht bedienen, sondern gar nicht erst aufkommen lassen. „Alles, was Sie heute sehen, ist typisch, aber nicht repräsentativ“, lautet der mehrmals wiederholte Kernsatz der Inszenierung. Er lädt dazu ein, sich eigener Vorurteile und Prägungen bewusst zu werden, diese zu hinterfragen – und schließlich beschwingt hinter sich zu lassen.

Morgenland
Ein Abend mit Dresdnerinnen und Dresdnern aus dem Orient
In arabischer, englischer und deutscher Sprache mit deutschen Untertiteln
Gastspiel der Bürgerbühne des Staatsschauspiel Dresden
Regie: Miriam Tscholl, Bühne und Kostüm: Belén Montoliú Garcia, Musik: Michael Emanuel Bauer, Dolmetscher: Bashar Alwan, Licht: Andreas Kunert, Dramaturgie: Felicitas Zürcher.
Mit: Tarek Alsalloum, Ashraf Ayash, Rouni Mustafa, Ibrahim Mohamed Qadi, Sami Ramadan, Diaa Eldin Soliman, Yesmine Trigui
Musiker: Anwar Aldiban, Thabet Azzawi, Abed Sarraf, Abdel Semmoudi
Dauer der Aufführung: ca. 2 Stunden, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

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Andrea Berger

Andrea Berger, Jahrgang 1983, studiert Dramaturgie in an der Theaterakademie August Everding. Arbeitet als freie Produktionsdramaturgin, schreibt für das Münchner Feuilleton und assistiert beim Münchner Tanz- und Theaterfestival RODEO 2016. Lebt in München und Wien.

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