Mein erstes Mal beim Kasperl?

Wann begann die Liebe zum Theater? Was war die erste dramatische Berührung? Stückemarkt-Autoren erzählen von frühen Leidenschaften – eine Serie zum tt09, exklusiv für den Theatertreffen-Blog.

So gern ich die Frage beantworten wollte, ich muss gestehen: Mir fehlt jegliche Erinnerung an mein erstes Mal Theater. Wahrscheinlich war es ein Opernbesuch, oder ich beginne noch früher, bei meinem Abo für den Kasperl in der Wiener Urania, ich weiß es nicht mehr. Und wenn es mir doch gelänge, wenige Erinnerungsfetzen hervorzuklauben und in Sätze zu packen, wäre es mit Sicherheit uninteressanter zu lesen, als ein Bericht über meinen ersten Schultag.

Aber natürlich gibt es ein erstes Mal, oder gleich mehrere erste Male: eine erste Bewusstwerdung für die Kraft der Suggestion, für die Möglichkeiten des theatralen Raumes, für das Gegenspiel von Wörtern und Körpern, ein erstes Mal die Erfahrung der Notwendigkeit von Auslassungen, ein andermal das erste Erleben von Grenzen im Theater, von Überempfindlichkeit, von wohltuender Überforderung, von Verwirrung und Chaos, von Balance, von Rhythmus, von dem Eintreten und der plötzlichen Verwerfung von Erwartungshaltungen usw.
Es klingt abgeschmackt, doch es ist so: In meiner persönlichen Zuschauererfahrung gibt es für alles das erste Mal. Ich möchte von zwei ersten Malen erzählen, anhand von Michael Thalheimers „Liliom“-Inszenierung (2000) und von Luk Percevals „Oom Vanja“ (2005).

„Liliom“ hat mir gezeigt, welche Qualität ein dramatischer Text erreichen kann, wenn er zu einer Lücke wird, die den Schauspielern genügend Freiraum bietet. Ihr Spiel, angeregt von einer exzellenten Strichfassung und dem beeindruckenden Bühnenkubus, erreicht in den Pausen die höchste Ausdruckskraft. Wenn Peter Kurth als Liliom, dieser sprachlose Jahrmarktsausrufer, den Kurth als großes, verletztes Kind spielt, das seinen Schmerz nicht artikulieren kann, auf die Bühne kommt und erstmal zehn Minuten ins Publikum starrt, kann man die Spannung förmlich einatmen, die durch die Stille generiert wird; im anschließenden Wutausbruch von Liliom entlädt sich die aufgestaute Energie des ganzes Raums. Und als Liliom gegen Ende des Stücks seine Tochter hochhebt und ihr eine gestohlene Sternschnuppe schenken möchte, zuckt diese nur, wehrt sich und stößt ihn von sich, ihn, den sie als ihren Vater nicht erkennen kann, starb er doch lange vor ihrer Geburt. Wie Fritzi Haberlandt und Peter Kurth diese Szene spielen, wie sie strampelt und sich zu befreien sucht, und wie sein Griff aus Zärtlichkeit zu Brutalität, von Hochheben zu Festhalten wird, wie diese zwei Körper sich ineinander verkeilen, diese Intensität traut man sich beinahe nicht zu erwarten. Hier haben sich zwei Menschen nichts zu sagen und zerbrechen doch aneinander. In Thalheimers Theater der wort- und sprachlosen Existenzen sprechen statt der Münder die Körper, und selbst diese kommunizieren nicht, gefangen in ihren Posen der Uniformität, sondern befreien sich nur manchmal zu gewalttätigen Ausbrüchen. Der dramatische Text ist auf ein Minimum gekürzt, wird Partitur eines Kräftemessens zwischen Zärtlichkeit und Gewalt, und gerade in dieser Reduziertheit kommt die Brillanz von Molnárs Sprache erst recht zur Geltung.

Ähnlich exakt im Umgang mit Sprachlosigkeit inszeniert Perceval seinen Tschechow, obgleich die Stille hier mit vollkommen anderen Mitteln aufgefüllt wird als bei Thalheimer.

Die Bühne ist leer, die Wände sind durch dicke grüne Vorhänge bedeckt, der dunkelbraune Parkettboden schlägt Wellen. Auf acht Stühlen sitzen die Figuren. Sie alle werden diese Bühne in den nächsten drei Stunden nicht verlassen und keine Figur wird uns dabei auch nur eine Sekunde langweilen. Die Inszenierung beginnt in kompletter Stille. Die Darstellerinnen und Darsteller sitzen nur da, setzen winzige Gesten, lächeln in sich hinein oder grummeln vor sich hin. Lange Minuten passiert nichts, dann plötzlich erklingt Opernmusik in Grammophonqualität. Langsam beginnen einige Figuren auf dem gewellten Boden dazu zu tanzen. Nur um sich danach wieder zu setzen und weiter zu schweigen. Perceval nimmt sich diese Zeit – und nutzt sie voll aus. Nach diesen zehn, fünfzehn wortlosen Minuten werden wir schon ganz tief drinnen sein in den Personen, in dieser Gesellschaft, dieser seltsamen Familie. Was wir erleben, ist klassisches psychologisches Schauspielertheater, das der Komplexität der Welt, in der wir leben, angeblich nicht mehr gerecht werden kann. Doch Perceval fegt alle Bedenken beiseite. Was seine Inszenierung so großartig macht, ist ihr bedingungsloses Interesse an den Menschen, das komplette Fehlen von Zynismus und die Genauigkeit, die sie auszeichnet, die Zeit, die sie sich nimmt für die Großartigkeit und Lächerlichkeit dieser Figuren. Diese Inszenierung hat mir deutlich gemacht – mehr als jede andere zuvor – wie eine Bedeutung zwischen den Worten liegen kann, ohne dass der eigentliche Dialog, auch hier wiederum radikal auf seine Essenz zusammengestrichen, an Bedeutung verliert.

Diese beiden Theatererlebnisse sind natürlich nur einzelne Puzzlestücke in der Reihe meiner ersten Male, aber möglicherweise jene, die meine Art, an Dramentexten zu arbeiten, am meisten geprägt haben. Ich hoffe, dieser Frage somit halbwegs gerecht geworden zu sein.

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Stephan Lack

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