Mein erstes Mal oder die Tränen der Evelyne

Ich bin 17 Jahre alt und im Théâtre National von Chaillot: Einige Wochen später verlasse ich das Gymnasium um zu arbeiten, entfliehe den Abschlussprüfungen, gehe einfach nicht hin.

Ich reiße aus, bin 18 Jahre alt und ziehe für ein paar Wochen in den Süd-Westen Frankreichs: Dort bin ich Mitglied einer kleinen Gruppe, die „L’Opéra des Girafes“ von Jacques Prévert inszeniert, und betreue in einem Dorf eine Klasse aller Altersgruppen.

Zurück in Paris werde ich zunächst Lagerarbeiter beim Virgin Megastore auf den Champs-Élysées. Dann arbeite ich als Betreuer bei der Fondation Roguet, einem Zentrum für Geriatrie in Clichy und bald darauf im Krankenhaus Beaujon für ein Freizeitzentrum. Kurz darauf bin ich 20 und eröffne ein kleines Theateratelier. Hier arbeite ich mit Kindern zwischen vier und zehn Jahren, für die ich kleine Einakter und Theatererzählungen entwickle. Später schreibe ich dann Romane und Stücke.

Unterdessen in Chaillot. Ich bin 17 Jahre alt und auf dem Gymnasium. Mein Professor Jean-Louis Besson nimmt mich mit, um die „Elektra“ von Sophokles in der Inszenierung von Antoine Vitez zu sehen: Dort werde ich mit Evelyne Istria weinen. Mit ihr, der Schauspielerin, die in den gezeichneten, von der Sonne schier erdrückten Räumen Kokkos’ nun erneut die Elektra für Vitez spielt. Ich will mit ihr weinen, ohne irgendetwas von dem zu verstehen, was erzählt wird oder was sich zusammenbraut. Aber dort vor uns entsteht ein Tableau vivant unseres eigenen Abfalls, unserer Rachsucht, unseres alles vergiftenden Zorns, der ausgelöschte Schmerz.

Ich weiß nicht, was gesagt wird, ich weiß nicht, was ich sehe, aber ich weiß, dass es da ist. Übersinnlich, verklärt, übertragen und abgelegt wie ein Spiegelbild, in dem Kunst und Konvention sich verlagern, um unsere Aufmerksamkeit auf einen einzigen Punkt zu lenken: Die Tränen der Evelyne, kniend auf dem mütterlichen Bett des Verbrechens. Diese echten Tränen, das reine aus ihren Augen vergossene Wasser, der ausgespuckte Hass, wiederausgespuckter Schmerz, wie ein Juwel entsetzlicher Schönheit inmitten all dieser falschen Schwelgerei – hier durchfährt mich die Emotion. Ich bin 17 und werde schreiben, weil ich nicht lesen kann, weil ich nicht sehen, nicht hören, weil ich nicht denken kann, weil ich weder weiß, wohin ich gehen soll, noch, wie ich dahin komme oder was ich dort mache.

Schreiben wäre dann das Leichteste, das Einfachste, um aus den Reihen der Mörder herauszutreten, wie es Kafka und Kaplan nennen. Eine Katastrophe ergreifen, die eigene und die der Anderen, die Monster eines jeden und sich eine kleine eigene Welt aufbauen, um sie darzustellen – eine Welt, in der immer wieder die Frage gestellt wird, wie das Andere in seiner ganzen Schlechtigkeit gezeigt werden kann. Schreiben: um die Welt zu verwandeln, zu hinterfragen, zu idealisieren, um die Monster und Helden zusammenzurufen, die Spiegelflächen herauszubilden, um klarer zu sehen, um die Mörder Elektras zu zähmen.

Ich werde also schreiben, weil Schreiben eben nichts ist, weil sie es eben sind, die alles tun; Vitez, Istria, Kokkos. So ist es auch mit mir, ich werde eine Welt für mich errichten, narzisstisch und wütend gemein, aber lustig, um den letzten Beweis eines kleinen Restes Demut zu erbringen. Wir werden sehen, was wir sehen werden. Sie bemächtigen sich dessen und machen damit was sie wollen, aber letztendlich ist es mir egal.

Wir befinden uns im Jahr 1987. Ich bin 17 Jahre alt, und will versuchen, einige dieser Melodien zu schaffen, die jene Töne geformt haben, die aus dem Mund der Evelyne geströmt sind; herausgeflossen gegen die Stille und den Schmerz und hervorgetreten, als bedeute das Schreiben ein Herausbrechen aus den Reihen der Mörder.

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Pierre Notte

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