„Hate Radio“ von Milo Rau und dem International Institute of Political Murder setzt sich mit der Rolle des kigalesischen Radiosenders RTLM während des Genozids in Ruanda im April 1994 auseinander.
Dieser Genozid, also die versuchte Auslöschung der Tutsi-Minderheit durch die Hutu-Mehrheit in Ruanda, ist in seinen Ausmaßen kaum zu erfassen oder zu beschreiben. Im umfangreichen Programmheft, das aus einer Sammlung von Interviews und Essays besteht und zu Beginn an alle Zuschauer verteilt wird, heißt es: „Die Zahl der Opfer konnte nur geschätzt werden: Nach Regierungsangaben starben in 100 Tagen rund 1.174.000 Menschen, 10.000 pro Tag.“ Diese Morde waren von der Regierung legitimiert, wurden aber von einer breiten Masse der Bevölkerung durchgeführt. Die Mörder kannten die Ermordeten meist als Nachbarn oder Familienangehörige. Das wirft Fragen auf: Wie kann es zu einem Genozid kommen? Wer ist dazu fähig?
„Hate Radio“ begegnet dieser Komplexität der Thematik, indem ein Ausschnitt fokussiert wird: Radio-Télévision Libre de Mille Collines, kurz RTLM. Das Konzept von RTLM, oder „Radio Sympa, die Stimme des Volkes“, als das es sich selbst bezeichnete, setzte auf betont lockere Moderatoren und auf ein junges Publikum ausgerichtete Musik. Dazwischen: Denunziationen und rassistische Mordaufrufe. Gewalt wurde hier als Teil eines attraktiven Life-Styles präsentiert und reihte sich ein in positiv-konnotierte Kontexte: Joints und Bier sind cool, die Musik ist cool, Tutsis jagen und töten ist cool. Wer auch cool sein will, kann ganz einfach dazu gehören: kiffen, die Musik von RTLM hören und Tutsis töten. Gewalt und Mord wurden so nicht nur als legitim und vollkommen selbstverständlich gesamtgesellschaftlich etabliert, sondern als attraktiver Life-Style aufgewertet.
„Hate Radio“ versucht diese perfide Logik der rassistischen Gewalt auf die Bühne zu bringen: Der Senderaum von RTLM wurde nachgebaut und aus über fünfzig Interviews und anderen Dokumenten wurde eine Sende-Stunde konstruiert. Diese Sende-Stunde hat es so nie gegeben, sie stellt eine „konzentrierte Verdichtung oder Kondensation“ dar. Milo Rau betont aber, dass alles authentisch „belegt“ ist. Der Begriff der Authentizität spielt in dieser Inszenierung eine bedeutende Rolle: Alles, was gesagt und gezeigt wird, gilt als „belegt“. Selbst die Schauspieler verkörpern im wörtlichen Sinn diese Authentizität, da es sich um Überlende des Genozids handelt.
„Hate Radio“ liefert keine Antworten und einfache Erklärungen, es liefert keine umfassende Analyse oder Lesarten, es lässt vielmehr jeden Zuschauer mit Fragen zurück. Beim Publikumsgespräch im Anschluss an die zweite TT-Vorstellung, geleitet von Tobi Müller, bestand die Möglichkeit, die Darsteller Afazali Dewaele, Sébastien Foucault, Nancy Nkusi, Diogène ‚Atome‘ Ntarindwa, Dorcy Rugamba sowie Milo Rau und den Dramaturgen Jens Dietrich nach Hintergründen, Erklärungen oder persönlichen Aspekten zu befragen.
Milo Rau betonte hierbei noch einmal den „dokumentarischen Anspruch“ aller Details und dass „Reenactment“ keine Wiederholung der Vergangenheit, sondern die „Wahrhaftigkeit des Akts auf der Bühne“ beschreibt. Die „Macht der Sprache“ verdeutlichte Dramaturg Jens Dietrich an den Parallelen zu NS-Ideologien, die in der RTLM-Propaganda zu einer Täter-Opfer-Verkehrung instrumentalisiert wurden. Die Tutsi-Minderheit wurde mit den Nazis , also einem Feindbild, gleichgesetzt, während die Gewalt der Hutu-Mehrheit mit der französischen Résistance verglichen und somit positiv aufgewertet und legitimiert wurde.
Diogène ‚Atome‘ Ntarindwa berichtete von seinen persönlichen Erinnerungen an die Sendungen von RTLM, die perfide Umkehrung von Wortbedeutungen, wo zum Beispiel der Spruch „Geh arbeiten!“ zu einem Synonym von „Geh töten!“ wurde. Er betonte auch, dass „Die Grausamkeit oft im Nicht-Gesagten“ zu finden ist.
Die Schilderungen und Antworten der Schauspieler während dieses Publikumsgespräches verdeutlichten noch einmal die Rolle der Authentizität, die durch ihre Zeugenschaft vermittelt wird. Während sie in der Inszenierung die Rolle von Tätern einnehmen, sind ihre Aussagen hier die von Zeugen und Betroffenen. Nancy Nkusi betont hierbei, dass die Darstellung ihrer Rollen sehr viel Kraft und Disziplin erfordert, da sie enorme Emotionen auslösen, die aber in der Darstellung kontrolliert werden müssen. „Es herrscht eine enorme Distanz zwischen mir als Person und der Figur, die ich spiele“ konstatiert sie, was auch alle anderen Darsteller bestätigen. Sie betont außerdem, dass sie „nicht immer wieder auf ihren Opferstatus reduziert werden“ will und dass ein Grund für ihre Mitarbeit an diesem Projekt war, dass sie kein Opfer darstellt.
Für kontroverse Reaktionen sowohl im Publikum als auch auf dem Podium sorgten Einwände (oder eher Vorwürfe), dass die Inszenierung durch den authentischen Gestus aufklärerisch wirke, aber eigentlich anti-aufklärerisch sei. Ein anderer Zuschauer spitzte diesen Vorwurf noch zu und warf der Produktion eine „Verteidigung dieser Ideologie“ vor. Leider entstand hieraus keine konstruktive Diskussion, sondern lediglich eine emotionale Aufgeladenheit aller Beteiligten, so dass Tobi Müller diese Diskussion unterband. Am sachlichsten und konstruktivsten blieben erstaunlicherweise die Darsteller und auch Milo Rau, der klarstellte, dass der Abend keine Analyse leisten wolle, sondern durch Reduzierung Raum für den Betrachter lassen wolle. Das Interesse wäre weder Betroffenheit zu erzeugen, noch eine Leseanleitung zu liefern.
Das Publikumsgespräch habe ich in diesem Zusammenhang als wichtigen Teil der Inszenierung empfunden, da hier der sehr geschlossene und formale Rahmen der Inszenierung erweitert und gebrochen wurde. „Hate Radio“ ist also nicht grundlos die einzige Inszenierung des Theatertreffens, zu der nach jeder Vorstellung ein Publikumsgespräch stattfindet. Daher stimme ich der These, dass „Hate Radio“ die Zuschauer traumatisiere, auch nicht zu. Gerade im Gespräch mit den Beteiligten wurde das Angebot zur aktiven und konstruktiven Verarbeitung der Inszenierung gemacht.
Allerdings denke ich persönlich, dass, entgegen der Aussagen von Milo Rau, ein Projekt wie „Hate Radio“ durchaus mit der Betroffenheit der Zuschauer spielt. Das halte ich auch für geradezu unvermeidlich und höchst legitim. Allerdings sollte dieses Mittel dann auch transparent eingesetzt werden, ohne es mit Begriffen wie Authentizität oder Reenactment zu verdecken. Zumal gerade zu Beginn der Inszenierung offensichtlich Betroffenheit und Emotionalität erzeugt werden soll: Bevor die Radio-Sendung performt wird, werden in Video-Einspielungen Augenzeugenberichte von überlebenden Opfern des Genozids, die unvorstellbaren Grausamkeiten auf sehr erschütternde und persönliche Weise vorgetragen. Allerdings wird auch hier nicht auf Bilder oder Gesten, sondern einzig auf die Kraft und Macht der Worte gesetzt. Diese Macht der Worte beschwört „Hate Radio“ geradezu unheimlich eindringlich und verweist darüber hinaus darauf, dass Menschen unter bestimmten Umständen zu unvorstellbaren und unbeschreiblichen Grausamkeiten fähig sind, die sich allen Worten und Versuchen der Beschreibung oder Darstellung entziehen.