Sebastian Rudolph: Über Faust. Und warum es sich lohnt, Theater zu machen

Faust I + II“ von Nicolas Stemann. Spieldauer „Faust I“: circa zwei Stunden 40, keine Pause. „Faust II“: circa vier Stunden 40, inklusive zwei Pausen. Aufführungsdauer „Faust I + II“ gesamt: circa acht Stunden 20, inklusive drei Pausen. Das kostet viel Aufmerksamkeit, Kraft und vor allem: Zeit. Von den Zuschauern, den Schauspielern, allen Beteiligten. Aber ist es das wert? Und wenn ja: Wozu?
Für Patrycia Ziolkowska, die unter anderem das Gretchen und Helena spielt, lohnt dieser Faust-Marathon alle Anstrengung. Die lange und physisch wie psychisch anstrengende Zeit auf der Bühne setzt bei ihr als Darstellerin unheimlich viel positive Energie frei, wie sie mir während einer entschleunigten Zugfahrt nach Berlin erzählte.
Einen ähnlichen Effekt scheint dieser Faust-Marathon beim Publikum auszulösen: Bei der Theatertreffen-Premiere wurde begeistert geklatscht und gejubelt, ein Zuschauer twitterte: „Auch beim zweiten Mal anschauen: super, der Faust. Jubel im Haus der Festspiele.“, ein anderer um ein Uhr nachts: „Fix und fertig aber zufrieden nach achtstündigem Stemann-Faust vom Thalia beim Theatertreffen.“ Nach einem Faust-Marathon im Thalia-Theater in Hamburg habe ich sogar erlebt, dass das komplette Publikum stehenden, frenetischen Applaus gegeben hat – und das nachts um 1.30 Uhr, nach über acht Stunden Faust… und das in Hamburg!
Einer der Gründe für diesen Beifall dürfte der Schauspieler Sebastian Rudolph sein. In „Faust I“ bestreitet er beinahe die gesamte erste Stunde vollkommen alleine auf der Bühne – ohne jedoch einen tatsächlichen Monolog zu halten, er tritt vielmehr durch Sprache und Gesten in einen Dialog mit dem Text. So wird zum Beispiel das allen bekannte Reclam-Heft zu seinem Gegenüber oder die widerstreitenden Gedanken und Gefühle des Faust, wodurch die „zwei Seelen“ in seiner Brust wie eine Untertreibung wirken.

Sebastian Rudolph. Foto: Armin Smailovic.


Trotz aller Anstrengung und Hektik des Schauspieler-Berufs hat sich Sebastian Rudolph, wie Stemann Jahrgang 1968, die Zeit genommen, sich am 20. März 2012 im Restaurant Weltbühne am Thalia Theater Hamburg mit mir zu treffen. Es ist kurz nach 22 Uhr, die Vorstellung des Kirschgarten, in der Sebastian Rudolph den Studenten spielt, ist gerade vorbei.
Sebastian Rudolph: „Ja, heut war ein langer Tag. Probe, dann Ensemble-Versammlung und dann Vorstellung und so. Aber das soll jetzt nicht heißen, dass wir hier nicht noch kurz mal sprechen können. Ich ess‘ jetzt eh noch was.“
Dieses „noch kurz mal sprechen“ sollte bis halb eins in der Nacht dauern, eine Zeit, in der viel gesagt und diskutiert wurde. So viel und so intensiv, dass die besten Szenen, frei nach René Polleschs „Kill your Darlings!“, leider rausgeschnitten werden mussten: Ihr könntet sie gar nicht ertragen. Wörtlich, da unser Gespräch das faust’sche Terrain immer wieder verlassen und neue, unbekannte Wege eingeschlagen hat. Ob der Rotwein daran beteiligt war? Vielleicht anteilig, aber sicher nicht ausschließlich. Vielleicht aber das Essen, das sich Sebastian bestellt hat – und das die körperlichen Anstrengungen der Schauspiel-Arbeit besser verdeutlicht als alle Beschreibungen: „Ich hätte gerne ein blutiges, aber wirklich blutiges, rohes Rumpsteak!“
Adrian Anton: Mit Nicolas Stemann hast Du inzwischen ja schon diverse Zusammenarbeiten hinter Dir – entspricht Dir seine Arbeitsweise?

Sebastian Rudolph: Ich finde Nicolas von der Arbeitsweise her einen der mutigsten Regisseure überhaupt, weil er einem bis zum Schluss die Möglichkeit gibt, alles wieder umzuschmeißen. Und alles ist dem verpflichtet, dass man das macht, wovon man überzeugt ist, dass es das ist, was man sagen möchte.
Nicolas ist ein sehr musikalischer Mensch und auch ein „richtiger“ Regisseur, also schon ein Bestimmer, der Dinge festlegen und wiederholbar machen will. Das gehört ja auch zu unserer Kunst dazu. Schon deswegen sind die Sachen sehr schön gebaut. Auch im Faust ist das ein ganz festes, tolles Gerüst, in dem wir uns frei bewegen können. Es gibt immer wieder andere Arbeiten, wie zum Beispiel „Die Kontrakte des Kaufmanns“, wo es im gesamten Prozess viel mehr Freiheiten während der Vorstellungen gibt. Wo jede Vorstellung wirklich in eine ganz andere Richtung laufen kann und wo Nicolas angefangen hat, auf die Bühne zu gehen, und dadurch Kontrolle zu verlieren.
Wir kennen uns unheimlich lange, wir müssen manche Sachen nicht mehr extra miteinander klären, auch im gesamten Team um ihn herum. Und dadurch hat man unheimlich viele Freiheiten. Jeder weiß, was man beitragen kann und wo man sich auf die anderen verlassen kann. Deshalb würde ich das Ganze schon auch als große Kollektivarbeit bezeichnen. Nicolas ist da offen und uneitel genug. Aber es ist natürlich so, dass er es am Ende ist, der bestimmt und das Ganze formt. Aber der auch die Freiheit lässt, dass sich bis zum Schluss alles ändern kann. Der sich auch zumutet, dass das am Ende bedeutet: Das fliegt alles raus! Das tut ihm dann auch weh, aber das passiert dann eben.
A.A.: Stemann hat zu seiner Inszenierung „Der demografische Faktor“ ein Blog initiiert, wo alle Elemente und Prozesse, die während er Proben entstanden sind, die in der endgültigen Inszenierung aber nicht mehr vorkommen, dennoch öffentlich zugänglich sind. Hätte sich das auch für euren Faust angeboten?
S.R.: Von „Faust I“ haben wir schätzungsweise fünf Versionen inszeniert. Jeder von uns dreien hat auch alle Sätze des Stückes schon einmal gesagt. Sowas ist nur durch unsere lange Probenzeit möglich.
A.A.: Es fanden bereits in einem sehr frühen Stadium der Produktion öffentliche Proben statt, zu „Faust I“ schon im Oktober 2010 – wie fühlt sich das an, mitten in einem „Work-in-Progress“ an die Öffentlichkeit zu treten?
S.R.: Ich finde diesen frühen Kontakt mit den Zuschauern sehr, sehr schön. Ich mag diesen Stil von Nicolas, dass es nicht um ein Ergebnis oder um Leistungsgedanken an diesem einen Tag geht. Natürlich hat man trotzdem Druck und möchte es gut machen, aber die Möglichkeit zu scheitern gehört dann zum Prinzip und zum Projekt mit dazu.
A.A.: Ist durch dieses offene Konzept und den Einbezug in die Aushandlungsprozesse auch der Stresspegel ein anderer? Durch mehr Verantwortung, Autonomie oder ähnliches?
S.R.: Natürlich ist das eine größere Freiheit und man ist in dieser größeren Freiheit viel verlorener. Es ermöglicht einem aber auch wieder, freier mit einem Text umzugehen und sich selbst komplett in Frage zu stellen. Aber natürlich steht man dann manchmal vor dem Nichts.
Es gibt einen großen Druck und einen großen Ehrgeiz in Bezug auf sich selbst natürlich, aber es gibt keine Bosheit, in dem Sinne: Du kannst nicht versagen, du bist mit den anderen zusammen und man macht das jetzt. Dadurch ist das eher ein positives Abenteuer.
A.A.: Du hast die textliche Ebene angesprochen – macht es für Dich als Schauspieler einen großen Unterschied, ob Du einen sehr offenen Text wie zum Beispiel von Elfriede Jelinek oder einen Klassiker wie Faust spielst? Bei Jelinek sind ja kaum Charaktere vorgegeben und es sind noch keine Bilder vorhanden von dem, was du spielen sollst. Bei Faust ist das anders, hier existieren sehr konkrete Bilder und Vorstellungen. Was findest Du schwieriger?
S.R.: Bei „Faust I“ ist die große Schwierigkeit gewesen, die Sprache überhaupt wieder hörbar zu machen. Bei Jelinek zu Beispiel geht es oft darum, verschiedene Facetten von Sprache zu zeigen. Also, wo Sprache auch Musik oder Rhythmus und Geräusch ist und trotzdem einen Inhalt transportiert. Der aber jeden Abend  ein anderer ist, da jeden Abend andere Sätze ins Zentrum geraten.
Bei Faust war es wichtig, Sätze wieder hörbar zu machen. Als Goethe den Faust geschrieben hat, da waren das ja keine geflügelten Worte, da hat er was damit gemeint. Und das wieder so in den Mund oder ins Ohr zu kriegen, dass man das überhaupt wieder hören kann – denn jeder meint ja, er kennt das alles – das war erst einmal die größte Aufgabe. Und natürlich ist das ein riesiges Projekt und man denkt, das schafft man eh nicht, aber man hat eben diesen Ehrgeiz, auf eine Höhe mit dieser Sprache zu kommen.
Ich glaube, dass ist auch der einzige Nachteil der Arbeitsweise bei Stemann, dass bei diesen großen Texten, für die aber relativ wenig Zeit ist, man als Schauspieler bei der Premiere oft noch nicht auf einer Höhe mit dem Text ist. Das war beim Faust anders, da wir alles immer zusammen erarbeitet haben, „Faust I“ nur mit drei Schauspielern, so dass die Sprache so richtig in einen sackt. Dass man so drin ist, dass es beim Sprechen ist, als würden wir den Text gerade schreiben. Dann kann man damit ganz anders jonglieren. Dann ist es egal, wo Nicolas mich an der Stelle hinstellt oder was er mir gerade für eine Aufgabe gibt. Aber dafür braucht man auch einen langen Arbeitszeitraum. Und das finde ich das Besondere und die Unterscheidung an dieser Inszenierung, dass die Sprache von Anfang an so eine Höhe hat.
A.A.: Gibt es eine Angst vor dieser Höhe?
S.R.: Beim Faust liegt in dem Stück selbst ja diese ständige Beschäftigung mit dem Scheitern. Dieser erste Teil ist im Verhältnis zum zweiten Teil ja eher well-made-Play-mäßig geschrieben, eben sehr genießbar. Gleichzeitig wird diese Figur als wahnsinnig widersprüchlich gezeigt. Man stellt sich Faust oft als ganz alten Mann vor. Es geht ja auch um diese Verjüngung, aber wahrscheinlich ist er noch gar nicht so alt. Dann ist er auf der einen Seite ein Star, der von allen Leuten und seiner ganzen Umgebung gehypt wird. Gleichzeitig ist er ein vollkommen verschüchterter Nerd, der in seinem Zimmer sitzt, noch nie wirklich draußen gewesen ist, Angst vor Frauen und anderen Menschen hat und selbst von sich sagt, er hat weder Achtung bekommen noch hat er Geld, er hat also gar nichts. Das Ganze widerspricht sich in sich vollkommen.
A.A.: Entspricht das auch den heutigen Widersprüchen?
S.R.: Das Bild des modernen Ego-Menschen, der nur noch sich selber sehen kann, der sich ja auch vollkommen widersprüchlich in allen Facetten beschreibt, der seine Kleinheit und seinen Größenwahn, seine Schönheit und Hässlichkeit hat, korrespondiert mit dem Blick von Goethe, wie er den Faust beschreibt.
Dieser Physiker, den man auch im „Faust I“ in der Projektion sieht, hat was ganz Tolles gesagt, nämlich dass diese Frage nach dem Sinn, die Faust stellt, die falsche Frage ist. Das, was Faust macht, ist vollkommen unwissenschaftlich. An der Frage, was die Welt zusammenhält, zu verzweifeln, ist unwissenschaftlich – denn das herauszufinden ist ja sein Job, sonst wäre er arbeitslos. Der Wissenschaftler geht da genau anders herum ran. Da besteht also ein Widerspruch, da stimmt etwas nicht.
Das ist was ganz Tolles bei Goethe, dass er immer wieder einstreut, dass da etwas nicht logisch ist, dass da etwas nicht funktioniert, selbst in diesem well-made-Play des „Faust I“. Und im „Faust II“ herrscht ja ohnehin Chaos – und das haut er uns um die Ohren.
A.A.: Faust II gilt als nicht inszenierbar. Siehst Du das anders?
S.R.: Ich glaube, für Nicolas war das Chaos von „Faust II“ die größere Herausforderung oder die größere Lust als Regisseur.
Goethe hat gesagt, es gibt diese zwei entgegengesetzten Pole, und alles, was da dazwischen passt, das ist das Leben. Also nicht wie in unserer Gesellschaft, die ja eine Harmoniegesellschaft ist, die davon ausgeht, dass Leben nur stattfinden kann, wenn wir einen Konsens finden. Goethe sagt, das Leben lässt sich nur zwischen diesen beiden Polen abbilden. Und diese beiden Pole sind „Faust I“ und „Faust II“: hier das well-made-Play, das große Hollywood-Kino zur Verzauberung der Zuschauer – da „Faust II“, wo er sagt, das liegt an euch, ob ihr überhaupt etwas in dem Stück seht.
A.A.: Und was gibt es zu sehen?
S.R.: Zum Beispiel die Geldmacherei! Da gibt es vielleicht noch „Die Kontrakte des Kaufmanns“, aber sonst gibt es überhaupt kein Stück von literarischer Qualität, das sich überhaupt mit so einem Thema beschäftigt. Und Goethe hat das damals schon so beschrieben! Die wirklich politischen Themen und die Themen, die uns heute in der Welt beschäftigen, die finden im zweiten Teil statt.
A.A.: Kann denn Theater überhaupt eine politische Relevanz haben? Manchmal vermittelt ja Theater den Eindruck, dass Kapitalismuskritik mehr so eine Attitüde ist, die zur Schau gestellt wird, die ja schon zum guten Ton dazu gehört.
S.R.: Ja, stimmt. Mit vielen politischen Themen rennt man da ja auch offene Türen ein, denn irgendwie sind zum Beispiel alle gegen Nazis. Aber bei dem Thema Geld läuft das noch einmal vollkommen anders. Als wir „Die Kontrakte des Kaufmanns“ heraus gebracht haben und gerade der große Crash war, da hatten die Leute mal ein halbes Jahr das Gefühl, ihnen wird der Arsch unterm Hintern weggezogen, da hat das Stück reingegriffen in die Realität. Und wir haben ja immer noch genau dieselbe Situation. Aber die Leute sitzen im selben Stück und sehen uns zu und denken nur: „Ach, ist ja interessant, wie das in Afghanistan so abläuft.“ So als wäre das komplett weit weg. Die denken, das sind sie nicht mehr. Klar, bei so was wie „Ungerechtigkeit ist doof!“, da sind wir uns einig. Aber zu sagen, dass diese Grundlage, auf der hier alles basiert, nämlich das Geld, dass das alles nur Zauberei und Schwindel ist, das ist eine Sache, die wollen die meisten gar nicht wissen. Das kannst du Leuten auch offen ins Gesicht sagen und die sagen nur „o.k.“ und reagieren gar nicht drauf, das kommt nicht an, das will nicht gehört werden.
A.A.: Denkst Du, es macht trotzdem Sinn, es zu sagen?
S.R.: Das ist schon noch eine Möglichkeit, Auseinandersetzung zu finden oder ein Feld zu öffnen. Wo man in ein Feld einsteigt, das eigentlich Ökonomen und Wirtschaftswissenschaftler für sich in Anspruch nehmen.
Es gibt ja den Begriff der Umwegfinanzierung. Eigentlich heißt es immer: In ein Theater wird Geld gesteckt, aber man bekomme keine Leistung zurück. Aber dadurch, dass Theater einen bestimmten Raum schafft, wird so viel angestoßen, dass ein unheimlicher Gewinn abfällt. Eine Stadt und ihre politischen Vertreter machen mit einem Theater Gewinn, das ist kein Zuschussgeschäft. Und ähnlich kann das, was in einem Theater gezeigt wird, eine Umwegfinanzierung sein, weil sich dann woanders etwas Bahn bricht.
A.A.: Wofür lohnt es sich, Theater zu machen?
S.R.: Mache ich Theater für ein Publikum oder nicht? In wie weit passe ich mich daran an? Ein Theater, in das keine Leute gehen, ist kein Theater. Andererseits ist Theater ja nicht automatisch gut, nur weil Leute rein gehen. Aber trotzdem muss man sich diese Frage stellen…
Anmerkung des Autors: Ab hier gilt nun, wie angekündigt: Die Antwort mussten wir rausschneiden, Ihr könntet sie gar nicht ertragen! Aber es war eine gute Antwort!

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Adrian Anton, 1978 in Bad Hersfeld geboren, lebt und arbeitet in Hamburg als „freier" Kulturwissenschaftler. In der Praxis bedeutet das vor allem Individualisierung, Flexibilität und Mobilität im (Bildungs-)Prekariat als Ergebnis eines Studiums mit Magister-Abschluss in Volkskunde/Kulturanthropologie, Anglistik und Museumsmanagement. Seine Berufserfahrungen reichen von Bestattungen über PR und Tagungsorganisation bis zu Museumspädagogik. Derzeit forscht und schreibt er unter anderem zum „armen Tod". Bei all dem „work in transit" bilden Theaterbegeisterung und der Wille zu schreiben Konstanten, etwa das seit 2009 aktive Blog „FLÜSTERN + SCHREIE".

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