„Sight“ und „Tauberbach“ – eine Geschichte von künstlerischer Urheberschaft und kolonialen Fortschreibungen

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Intervention. Demonstranten vor dem Haus der Berliner Festspiele vor „tauberbach“. Foto: Manuel Braun


Nach der heutigen Vorstellung von „Tauberbach“ erwartete das Publikum auf dem Vorplatz des Hauses der Berliner Festspiele eine Gruppe von Menschen, die Schilder hochhielten. Die Aufschrift: „Find 7 differences“. Die Gruppe wies damit auf die große Ähnlichkeit hin, die „Tauberbach“ mit der Tanzperformance „Sight“ des Tanzkollektivs Grupo Oito, unter Regie von Ricardo de Paula, aufweist, das im November 2012, also lange vor „Tauberbach“, im Ballhaus Naunynstraße uraufgeführt wurde. Ich sah „Sight“ 2012 und gestern „Tauberbach“ – die Parallelen sind nicht zu übersehen: Das Bühnenbild aus Kleidungsstücken, die Geschichte von Estamira aus dem Dokumentarfilm von Marcos Prado, einer Frau, die in einer Müllstadt bei Rio de Janeiro lebte. Der Trailer gibt einen Eindruck von der Performance. Darüber könnte man sich ärgern. Man könnte die schwierige Frage von (künstlerischer) Urheberschaft thematisieren, die mal komplex und mal ziemlich einfach ist. Man könnte sich mit Alain Platel streiten, der im Publikumsgespräch behauptet, heute zum ersten Mal von „Sight“ zu hören. Es wäre in diesem Rahmen auch interessant noch einmal über das Theatertreffen Kriterium „bemerkenswert“ zu sinnieren. Was wird überhaupt bemerkt und was nicht? Und welche Strukturen liegen diesem Bemerken zugrunde?
Kritik an Tauberbach

Intervention. Demonstranten vor dem Haus der Berliner Festspiele vor „tauberbach“. Foto: Manuel Braun


Aber darum geht es den Protestierenden nicht – das wird sehr schnell deutlich. Sie finden Platels Inszenierung aus anderen, schwerwiegenderen Gründen problematisch. Sie erkennen in Platels Bearbeitung von Estamiras Geschichte die Fortschreibung von Kolonialgeschichte, die von Anfang an eng mit Kunst verwoben war, einer Geschichte, die Schwarze (weibliche) Körper zum Objekt macht, einer Geschichte, die Schwarze Perspektiven marginalisiert, Schwarze Menschen exotisiert, die durch ihre Phantasien vom wilden Anderen, rassistische Hierarchien bis heute fortschreibt und festschreibt. Denn auch die Kunst, die gute, die freie, die mit dem Potential des Subversiven, ist nicht unschuldig und ereignet sich nicht im hierarchiefreien und geschichtslosen Raum. Die Geschichten, die auf der Bühne erzählt werden, lassen sich nicht losgelöst von gesellschaftlichen Realitäten als rein ästhetisches Erlebnis betrachten. Das klingt ziemlich banal, ist aber – wie einige Reaktionen beim Publikumsgespräch zeigten – bei vielen in Vergessenheit geraten.
Kritik an Tauberbach

Beim Publikumsgespräch. Protest wegen Alain Platels „tauberbach“. Foto: Manuel Barun


Verteilt wurden von den an der Intervention Beteiligten außerdem Zettel mit einem Interview mit Ricardo de Paula über „Sight“, „Tauberbach“ und die Repräsentation von Schwarzen Künstler_innen im westeuropäischen Diskurs. Darin beschreibt de Paula, wie ihn die Geschichte von Estamira nicht losließ, seit er den Dokumentarfilm über sie sah, und wie er, als Schwarzer Choreograph aus Brasilien, sich mit Estamiras marginalisierter Perspektive identifizieren konnte: „Why? Estamira is a woman, she’s Black, she’s Brazilian.“ Obwohl er nicht die Erfahrungen dieser Frau teile, so vereine sie beide doch, dass ihre Perspektiven und ihre Geschichten als Schwarze marginalisiert werden. Deswegen war es ihm bei „Sight“ ein wichtiges Anliegen, Estamira als Mensch ernst zu nehmen, sie nicht auf falsche Art und Weise zu repräsentieren. In „Sight“ kommt Estamira durch Videoprojektionen des Dokumentarfilms selbst zu Wort. In „Tauberbach“ dagegen werde die lange Tradition der Fetischisierung des Schwarzen weiblichen Körpers fortgeschrieben und Estamira als „wild and crazy person“ dargestellt. Die Musik ist als Inszenierungselement dazu so stark, dass Estamiras Geschichte in den Hintergrund tritt, zum bloßen Aufhänger verkommt. Platel hatte auf die Frage nach seiner Haltung zu dieser Art von kolonialer Reproduktion nicht mehr zu sagen als „I am married to a black woman“. Hat Platel sich gar nicht damit auseinander gesetzt, welche Traditionen er fortführt, wenn er als weißer Mann die Geschichte einer Schwarzen Bewohnerin einer brasilianischen Müllstadt auf diese Weise bearbeitet? Wo bleibt da die Selbstreflexion? Der Blick auf die Strukturen, innerhalb derer man lebt und arbeitet?
Das Theatertreffen kann sich eigentlich glücklich schätzen, dass diese wichtige Debatte heute Abend durch die Initiative von Grupo Oito und deren Unterstützer_innen wenigstens ins Foyer gebracht wurde. Es war aber nicht so glücklich und ließ die Protestierenden mit ihren Schildern zunächst nur auf den Vorplatz. Das ist mehr als bedauerlich und erscheint nahezu absurd, bedenkt man, dass es auch im letzten Jahr im Zuge der Blackfacingdebatte eine Intervention von Bühnenwatch gab und eine außerordentliche Diskussionsrunde vom Haus selbst zu dem Thema organisiert wurde. Das Theater braucht genau solche Foyergespräche, wenn das Foyer mehr sein soll als ein Ort der Selbstbeweihräucherung bei Sekt und Armierungseisen.  Aber noch mehr brauchen wir diese Debatte natürlich auf der Bühne. Was helfen uns ästhetische Erlebnisse, wenn sie uns die Perspektiven zeigen, die wir schon kennen und die zum Schweigen bringen, die wir nie zu hören bekommen? Wie sollen wir uns erschüttern lassen, wenn die Müllberge, die wir produzieren, eine lustige Spielwiese für virtuose Körper werden?
Die Berliner Zeitung ist Partner des Theatertreffen-Blogs.

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Hannah Wiemer

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