Das Theatertreffen muss sich wieder lohnen. Für die Künstler, das Publikum, die Kritiker und das Theatertreffen selbst. Unsere Autorin hat das mal durchgerechnet.
Erster April im Baumarkt. Die Sonne brennt, alle Lasteneinkaufswägen sind in Gebrauch, die Balkonsaison eröffnet. Ein junger Mann in angesagtem, scheinbar mühelos zusammengestelltem Outfit, dessen Wagen ich übernehmen möchte, lädt Sukkulenten in den Kofferraum: „Die sind voll hip und machen kaum Arbeit. Sieht man jetzt auf jedem Balkon“, meint er.
Spülenausschnitte, Eckverbindungen, kostenlose Topfbandbohrungen im Angebot. Beim Holzzuschnitt muss ich warten und gelange über meinen Facebook-Newsfeed auf nachtkritik: „Berliner Theatertreffen nominiert eine Inszenierung nach“ – den Publikumsliebling des virtuellen Nachtkritik-Theatertreffens „Die Schöne und das Biest“ des Prinzregentheaters Bochum. Des Weiteren heißt es dort, die TT-Jury solle 2021 abgeschafft und „durch ein komplexes Online-Voting“ ersetzt werden. Ab 9h28 wurde kommentiert („April, April!“) und geschimpft: gegen die „Expertenrunde“ oder den sicher eintretenden Untergang der Kunst, wenn die „crowd“ bestimmte.
Die Idee des Online-Votings verzückt mich, sie riecht nach Veränderung, Umschwung und frühlingshafter Mai-Luft. Das Theatertreffen wird zweifelsohne am Juryprinzip festhalten, nehmen wir aber mal an, es wäre anders. Von welcher Beschaffenheit müsste ein Algorithmus sein – nennen wir ihn TT 58-2021 – damit er sowohl das TT-Team, die Künstler*innen und das Publikum milde stimmte und zusätzlich sogar neue Publikumsgruppen (AD: Audience Development) generierte?
Wirtschaftlichkeit (Juryertrag ÷ Juryaufwand)
Jede*r Juror*in hat zwischen 61 bis 111 Inszenierungen gesehen, mit geballtem Einsatz haben sie in einem komplexen Verfahren zehn „bemerkenswerte“ Inszenierungen ausgewählt. Nebenbei sind sie noch hauptberuflichen Tätigkeiten nachgegangen – oft mehr als einer. Der Algorithmus sollte folglich die Wirtschaftlichkeit der Juryleistung (Ertrag ÷ Aufwand) berücksichtigen, genauer eine Verringerung des Aufwands (-A) bei gleichbleibender oder erhöhter Vergütung (V(oder 10)) sowie die gleichzeitige Sicherung der Ergebnisqualität (× EQ):
[(V(oder 10)) ÷ (-A)] × EQ
Stückauswahl
Wie bisher könnten sowohl Stadttheater (St-Th) als auch mehr und mehr frei produzierende Theater (Fr-Th) der drei deutschsprachigen Länder (DE-CHE-AUT) berücksichtigt werden. Eine Förderspritze aus dem TT-Topf (FöSp) für die freien Produktionen („oftmals schlechter bezahlt“ als Stadttheaterproduktionen, vgl. Deutsche Bühne) wäre denkbar. Zusätzlich könnte über die Einführung eines Genderquotienten (bezogen auf den_die Autor*in des Stücktextes und die Regie) nachgedacht werden (÷ GQ [Text & Regie]). Alles addiert mit drei weiteren Förderungen (Fonds3):
[Anzahl der Inszenierungen (Anm.: 2017 waren es 377) ÷ [(DE-CHE-AUT-St-Th) + (DE-CHE-AUT-Fr-Th)] × GQ (Text & Regie)] + (Fonds3-FöSp)
Publikumsnähe
Die dritte Algorithmus-Komponente bezieht sich auf eine Expansion der Publikumsnähe und die Erschließung neuer Zielgruppen. In Gestalt eines „Online-Votings“ wäre eine Orientierung am Prinzip der Nachtkritik-Charts denkbar, was zudem die Produktion von Theaterkritiken (nur online!) förderte (Einbeziehung der Leserbeteiligung/ Klicks (LB), Kommentarinteraktion (Kint)). Nicht zu vergessen das Audience Development (AD), beispielsweise in Gestalt niedrigschwelliger Workshops. Heraus käme ein dimensionsloser Quotient der Publikumsnähe:
[(LB + Kint) + AD] × 100%
Ergebnis
Der Algorithmus 58-2021 verringert die Arbeitslast der TT-Jury, fördert freie Produktionen, lässt den Quotient der Publikumsnähe in die Höhe schnellen und generiert neue Zielgruppen. Die Nachfrage an Online-Theaterkritiken steigt, wodurch Theaterkritiker*innen auch zukünftig keine Zeit finden, ihre Balkone zu bepflanzen (vgl. Videoblog nachtkritik 2016). Aber auch dafür gibt es eine Lösung: Hippe und trockenheitsverträgliche Sukkulenten – bald auch zu finden im TT-Blog-Redaktionsraum.