Am Freitag hatte Christoph Marthalers „Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie“ Theatertreffen-Premiere. Das beeindruckende Bühnenbild von Anna Viebrock war zu groß für die Berliner Bühnen, und so wurde Marthalers Wiener Festwochen-Produktion im Hangar 5 des Flughafens Tempelhofs aufgeführt.
„Darf ich da bitte durch! Ich sitze Reihe 17 Platz 23. Sie sitzen wohl auf meinem Platz.“ „Na, hören Sie mal! Links ist links! Ich werd’ ja wohl noch wissen, wo links ist!“
Die wohl größte Schwierigkeit dieses Abends, bereits vor Stückbeginn: Die Suche nach dem Sitzplatz. Orientierungsloses und gereiztes Irren durch die Reihen des Publikumsraums. Im Haus der Berliner Festspiele, da kennt man sich aus, aber der Hangar des ehemaligen Flughafens Tempelhof, das ist was Anderes! Da steht das Theatertreffenpublikum unter gesonderter Anspannung.
Das Design für den Untergang
Dann endlich Stille und eine lange Pause. Die Schauspieler haben sich im Bühnenbild eingerichtet. Schmiegen sich an Kommoden, Tische und Stühle, als wären sie Teil des Mobiliars. Die Pause ist wohltuend, denn das Bühnenbild von Anna Viebrock braucht Zeit, um in all seinen Details erkundet zu werden. Ein großer maroder Raum, in sich verschachtelt, aber von beklemmender Schönheit. In fetten Lettern steht ganz oben „Institut für Gärungsprozesse“, doch in diesem Institut gärt schon lange nichts mehr. Hier regiert der Stillstand. Die alten Möbel passen da sehr gut rein, ausgekochte Farben – beige, grau, braun. Einen Ausgang aus diesem tristen Raum gibt es nicht. Anstatt sich aufzulehnen gegen das Eingesperrtsein, gegen Abstieg und Krise, geben sich die fünfzehn Figuren ganz der Stagnation hin. Sie kämpfen nicht gegen den Untergang an, sondern sie singen, sitzen, stehen und beobachten.
Schubert, Bach und Mahler und dazwischen die Bee Gees
All das mit einer Menge Leichtigkeit, denn der Blick Marthalers auf seine Figuren und ihre Umstände ist ein humorvoller. Nicht verachtend und arrogant sieht er auf die Abgewirtschafteten in ihrer Handlungsunfähigkeit und Sprachlosigkeit hinab, sondern liebevoll.
Und dann ist da noch die Musik, die sich in dem grauen Stillstandspanorama beängstigend schön entfaltet. Wie berührend ist es doch, wenn die von der Krise gebeutelte Gesellschaft ganz zart und zerbrechlich den Gefangenenchor aus Beethovens „Fidelio“ anstimmt.
„Oh welche Lust,
oh welche Lust, in freier Luft
den Atem leicht zu heben!
Oh welche Lust!
Nur hier, nur hier ist Leben […]“
Doch in Butzbach kann trotz Krise auch gefeiert werden. Zwar auf sehr beschränktem Raum, nämlich in der Garage, dafür gibt’s den Disko-Klassiker „Staying Alive“ der Bee Gees.
Staying Alive!
Christoph Marthalers „Riesenbutzbach“ entwirft eine Gesellschaft, die schon das Schlimmste hinter sich hat und nun darum bemüht ist, sich, dieses marode System, noch irgendwie am Leben zu halten.
Das Ensemble ist einfach einzigartig. Ueli Jäggi, Jürg Kienberger und Silvia Fenz – um nur drei aus der 15-köpfigen Truppe zu nennen, bewegen sich so anders, artikulieren sich so eigentümlich, dass es jede Sekunde eine Freude ist, ihnen beim Stagnieren zuzusehen. Befremdlich schön sind sie dabei obendrein!
Zwischen vielen humorvollen und leichten Momenten entwickelt der Abend immer wieder tiefgründige-assoziative Situationen, denen man gerne noch weiter nachgespürt hätte. „Riesenbutzbach“ ist ein so fesselnder wie leiser Abend, der das Sitzplatzwirrwarr im Vorfeld sehr schnell vergessen lässt.