Wenn Globalisierung zum modernen Kolonialismus wird

Der diesjährige Stückemarkt hat unter dem Motto „Was ist (uns) die Zukunft wert?“ eröffnet. Eric Marlins Antwort darauf lautet: „Die Zukunft ist das wert, was wir alle aus ihr machen können.“ Autor Ilias Botseas betrachtet Marlins Text „AirSpace or In The Next Century“ als Warnung vor einem schleichenden Prozess, getrieben von der unsichtbaren Kraft des globalen Kapitalismus.


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Ich betrete einen Starbucks und bestelle einen Frappuccino mit Sojamilch. Es läuft „Levitating“ von Dua Lipa im Radio, während ein Mann im Business-Anzug auf seinem Macbook eine Netflix-Serie schaut. Neben ihm ist eine Glasfassade, durch die ich einen angelegten Park mit sauberen, glatten Flächen, angelegten Beeten und einer Skulptur aus Metallstäben, von der ich nicht weiß, was sie darstellen soll, sehen kann. Weißt du anhand dieser Beschreibung, wo ich bin? In welcher Stadt ich mich befinde? In welchem Land? Auf welchem Kontinent? Welche Luft ist es, die ich an diesem Ort, an diesem Platz atme?

Zwischen Spiritualität und Kommerz, wie ein Erdnussbutter- und Marmeladensandwich

Susannah ist die Protagonistin der Komödie, die mit absurden Textstellen und fordernder Syntax die Performer:innen zum kreativen Umgang mit der Materie zwingt – sie eine eigene Haltung zu dem gesprochenen Text einnehmen lässt. Sie zieht nach Rumänien, um ihren neuen Job als Beraterin in einem Unternehmen zu beginnen, während sie die tragischen Neuigkeiten ihrer Mutter, nämlich den Tod ihres Vaters, ignoriert. Im Strudel des Kapitalismus und Kommerzwahns wird sie mitgerissen und verliert die Kontrolle über ihr Leben. Inmitten des Chaos lösen sich die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben, Außen- und Innenwelt. Sie fließen zusammen, werden zum Fluss, in dem Susannah ihren Kolleg:innen gleichzeitig hinterherpaddelt und zu entkommen versucht, bis sie merkt, dass sie alle im Kreis schwimmen. Als sie merkt, dass alle Kraft, die sie in das Unternehmen steckt, ihr wie von einem Trampolin aufgesogen entgegengeschleudert wird, gibt sie auf und empfehlt in einer finalen Sitzung, das Unternehmen niederzubrennen. Der Text endet damit, dass sie ihrer Kollegin sagt, dass ihr Vater gestorben ist.

„Denkt global, handelt lokal“

Susannah erklärt, dass es das Ziel eines Unternehmens sein muss, „multi“ zu werden und nicht „supra“ – denn je größer ein „supra“-Unternehmen wird, desto weniger „wo“ gibt es, während ein „multi“-Unternehmen global wird, indem es sich an die Menschen und Kulturen anpasst, in denen es angesiedelt ist, und somit mehr „wo“ schafft.

Obwohl ihr Anliegen in urkomischen Formulierungen aufgezogen ist und die entsprechenden Szenen in ihrem Kontext nicht ernst genommen werden können, entpuppt sich Susannah als Anwältin von Identität und Kultur. Während sie ihre Mutter, die ihr schlechtes Gewissen symbolisiert, ignoriert und immer wieder versucht, ihr gegenüber ihre Arbeit zu rechtfertigen, ist es unausweichlich, dass sie sich letztlich selbst mit dem Tod ihres Vaters konfrontiert – also der Person, die für ihre Wurzeln steht, die ein Teil ihrer Identität ist.

Gentri-verzieh dich

Das offene Ende lässt eine:n erst einmal verdauen, was passiert ist. Wie geht es mit Susannah weiter? Bietet ihre Trauer Potenzial zur Heilung, zum Gedenken, zum Reifen?

Für mich ist dieser virtuos vorgetragene Lecture Performance-Abend ein Appell, Gentrifizierung und globalkapitalistische Mechanismen zu benennen, zu erforschen und zu reflektieren. Wie sieht die Welt im Jahr 2100 aus, wenn die westliche Welt – in ihrer historischen und gegenwärtigen Kolonialschuld – weiterhin ihre gentrifizierende Form sozialer Ungerechtigkeit exportiert? Wie sieht die Zukunft aus, wenn (durch Ausbeutung) reiche Staaten anderen Ländern ihre Ressourcen nehmen, um im Gegenzug Unternehmen und Lebensbedingungen zu schaffen, die schon im eigenen Land Lokalität durch verglaste Bauten und unbezahlbare Wohnungen verdrängen und den Schnitt der Gesellschaft sowohl symbolisch als auch buchstäblich an den Rand drücken? Es ist eine Zukunft, die sehr nah an uns dran ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir uns vor ihr fürchten sollten, sondern dass wir fähig sind, aktiv einzuschreiten. Denn wenn wir nicht für eine gerechte Zukunft einstehen, wird irgendwann der Boden, auf dem wir stehen, zu plastischem Airspace, in welchem sich unsere reuevollen Gesichter widerspiegeln.


Ensemble der szenischen Lesung / © Piero Chiussi

When globalization becomes modern colonialism

This year’s Stückemarkt opened under the motto „What is the future worth (to us)?“ Eric Marlin’s answer to that is „The future is worth whatever we all can make of it.“ Author Ilias Botseas sees Marlin’s text „AirSpace or In The Next Century“ as a warning against a creeping process, driven by the invisible force of global capitalism.

I enter a Starbucks and order a Frappuccino with soy milk. „Levitating“ by Dua Lipa is playing on the radio while a man in a business suit watches a Netflix series on his Macbook. Next to him is a glass facade through which I can see a landscaped park with clean, smooth surfaces, landscaped flower beds, and a sculpture made of metal rods that I don’t know what it’s supposed to represent. From this description, do you know where I am? What city I am in? In which country? In which continent? What air is it that I breathe in this place, in this space?

Between spiritually and commerce, like a peanut butter and jelly sandwich

Susannah is the protagonist of the comedy, which uses absurd text passages and demanding syntax to force the performers to creatively deal with the material – to let them take their own stance on what is said. She moves to Romania to start her new job as a consultant in a company, while ignoring the tragic news of her mother, namely the death of her father. Swept up in the maelstrom of capitalism and commercialism, she loses control over her life. In the midst of the chaos, the boundaries between work and private life, outside and inside world, dissolve. They merge, becoming a river in which Susannah simultaneously paddles after her colleagues and tries to escape them, until she realizes that they are all swimming in circles. When it becomes apparent to her that all the energy she is putting into the company is being thrown right back at her as if it was being sucked up by a trampoline, she gives up and, in a final session, recommends burning down the company. The text ends with her telling a colleague that her father has died.

„Think global, act local“

Susannah explains that the goal of a company needs to be becoming „multi“ opposed to becoming „supra“ – because the bigger a „supra“ company gets the less „where“ there is while a „multi“ company becomes global by being local to the people and cultures that they are set in, thus creating more „where“.

Although her concern is couched in hilarious phrases and the corresponding scenes cannot be taken seriously in their context, Susannah emerges as an advocate of identity and culture. While she ignores her mother, who symbolizes her guilty conscience, and repeatedly tries to justify her work to her, it is inevitable that she ultimately confronts herself with the death of her father – that is, the person who stands for her roots, who is a part of her identity.

Gentri-fuck off

The open ending leaves one to digest what has happened. What is next in line for Susannah? Does her grief offer any potential for healing, for remembrance, for maturing?

For me, this virtuosic lecture performance evening is an appeal to name, explore and reflect on gentrification and global capitalist mechanisms. What does the world look like in 2100 if the Western world – in its historical and contemporary colonial guilt – continues to export its gentrifying form of social injustice? What does the future look like when (through exploitation) rich states take resources from other countries in exchange for businesses and living conditions that already displace locality in their own countries through glassed-in buildings and unaffordable housing, marginalizing the cut of society both symbolically and literally? It is a future that is very close to us. But that doesn’t mean we should be afraid of it; it means we are capable of actively intervening. Because if we do not stand up for a just future, at some point the ground on which we stand will become plastic airspace in which our remorseful faces are reflected.


Szene aus der Szenischen Lesung / © Piero Chiussi

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Ilias Botseas wurde 1995 in Erbach im Odenwald geboren und studiert an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Theaterwissenschaft und Publizistik. Er ist Juror beim Theatertreffen der Jugend der Berliner Festspiele sowie in der Preisjury des Festivals WESTWIND 2022. Zuletzt kuratierte er die „Audio-Spielstättentour“ des Performing Arts Festival Berlin 2021. Er streamt auf Twitch und leitet dort das Kulturformat „peepoCultured“ für das Künstlerhaus Mousonturm.

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