Einige der diesjährigen Theatertreffen-Inszenierungen haben durchaus Taschentuchqualität. Doch wie ist das eigentlich mit dem Gefühl im Theater? Dürfen wir wirklich noch einfach so eine Träne zerdrücken, ohne zynisches Mitreflektieren, ohne ironischen Bruch?
Es ist kaum zu glauben: Da sitzt Sebastian Bark neben seinem Vater Joachim und singt doch tatsächlich mit, erst zögernd, aber schließlich mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht. Die beiden trällern gemeinsam Peter Kraus, die Schnulze heißt „Wenn Teenager träumen“ und eben hat Sebastian noch fremdschämend die Augen verdreht. Denn eigentlich ist der kitschige Musikgeschmack seines Vaters doch ziemlich peinlich.
Wir befinden uns im vierten Akt von She She Pops „Testament“, die schlaue King Lear-Adaption, die wohl der heimliche Star der diesjährigen Theatertreffen-Inszenierungen war. Lear hat eben seine „gute“ Tochter Cordelia wiedergefunden und schwelgt in trügerischer Melancholie. Wir wissen, dass die Sache nicht gut ausgeht. Wir wissen, dass das Sentiment nur produziert ist, und dass die traurige Wirklichkeit Lear später umso brutaler heimsuchen wird. Wir wissen, dass Peter Kraus‘ Schlager nostalgischer Kitsch ist, platte Gefühlsduselei, ein Fetisch, der uns beherrscht und dabei den Zynismus seiner spätkapitalistischen Produktion überspielt. Wir wissen, dass es so etwas wie echte Emotionen, authentische Gefühlsregungen ja gar nicht geben kann in unserer ironischen Zitatewelt. Sebastian Bark weiß das auch, und deswegen zögert er anfangs. Doch irgendwann lässt er sich drauf ein. Irgendwann stimmt er mit ein und strahlt vor Freude.
Sebastian Barks zurückhaltende Reaktion ist symptomatisch für die grundlegende Paradoxie unseres Zuschauer_innenverhaltens in einer durchdekonstruierten Gesellschaft. Wir wissen um die Kontingenz jeglichen Wahrheitsanspruchs Bescheid; wir haben uns Ironie und Zynismus als distanzierende Überlebensstrategien zurechtgelegt; wir suchen ständig nach Brüchen, die die Ernstgemeintheit jeder szenischen Bewegung unterwandern; wir setzen alles in Anführungszeichen; wir wissen, dass She She Pop diese Szene bestimmt schon dutzende Male gespielt hat und dass damit jedes spontane, unverfälschte Gefühl in seiner Wiederholung längst erstickt ist. Und doch ist da dieses ständige Begehren nach affektiver Regung, nach echtem, spontanem Gefühl, nach einer gänzlich unreflektierten körperlichen Reaktion. Wir finden es schön, wenn wir Gänsehaut kriegen und sind ganz verzückt, wenn uns gar eine kleine Träne die Wange hinunterkullert. Denn irgendwie zeigt uns das eine Fluchtlinie auf, eine Möglichkeit, zumindest für kurze Zeit der andauernden Selbstreflexivität, dem ständigen Nachdenken über die Konstruktion von (Theater)Wirklichkeit zu entkommen. Irgendwie zeigt uns das, dass wir noch nicht völlig abgestumpft sind, dass wir noch berührt werden können.
Dass man mit dieser emotionalen Dynamik des Zuschauens wunderbar spielen kann, zeigen neben She She Pop auch andere der diesjährigen Theatertreffen-Inszenierungen. Stefan Bachmann etwa setzt ans Ende von Kathrin Rögglas staubtrockener Konjunktiv-Mediensatire „Die Beteiligten“ eine Erlösungsszene, die vor Kitsch nur so trieft. Auch wenn das so explizit und moralisierend nicht im Text steht, darf Natascha Kampusch in Bachmanns Inszenierung Rache nehmen an den gefräßigen Medienmonstern, die sie ein Stück (und ihr kurzes Leben in Freiheit) lang gequält haben. Nachdem sie das Ensemble im Kill Bill-Schwertkampfstil aufgespießt hat, tritt sie erschöpft ein paar Schritte zurück. Panflötenmusik, mit Streichern untermalt, setzt ein, und während wir Zuschauer noch ganz überrascht sind, nach all den virtuosen Textgirlanden Kathrin Rögglas zum ersten Mal richtig mit dem Schmerz Natascha Kampuschs konfrontiert zu werden, kommt ein überdimensionaler Troll auf die Bühne. Er streicht ihr zärtlich übers Gesicht, umarmt sie, und trägt sie wie ein allmächtiger Beschützer von der Bühne.
Es ist ein Ende, das so gar nicht zum Stück passen will. Schließlich hat Rögglas Text jede erdenkliche Maßnahme getroffen, um uns auf Distanz zu halten. Schließlich wollte Röggla ja genau diese medialen Distanzierungsmechanismen aufzeigen. Aber das Unbehagen darüber stellt sich erst am Ende ein. Denn obwohl wir wissen, dass es genau diese trollige, kitschige Gefühlsproduktion ist, die die Medienmaschine erst zum Schnurren bringt, obwohl man die Schlussszene auch als zweite „Entführung“ durch den Troll lesen kann, fühlt sich das Trollfinale einfach berührend an. Obwohl wir wissen, dass „Beschützen“ eine zweifelhafte Sicherheit mit sich bringt, ist da doch dieser Reflex, der Utopie eines angstfreien Raums für kurze Zeit nachzuhängen und das angenehme Gefühl des Beschütztwerdens auszukosten. Wenngleich man in einem Stück sitzt, das uns nur noch ein weiteres Mal am Fall Natascha Kampusch beteiligt, wünschen wir dem Entführungsopfer doch so sehr, eben kein Opfer zu sein, und endlich mal in Ruhe gelassen zu werden.
Dürfen wir denn das? Ist es nicht gefährlich naiv, die Komplexität des Falls Kampusch auf eine erlösende Zärtlichkeitsgeste reduzieren zu wollen? Ist es nicht auch etwas blauäugig, wie Stefan Pucher die Kapitalismuskritik in „Tod eines Handlungsreisenden“ auf der rührenden Ebene eines TV-Melodramas mit dazugehörigen Sets, Dosenmusik, und überzeichnetem Schauspiel zu verhandeln? Greift es nicht doch etwas zu kurz, wie Christoph Schlingensief mit seinem eigenen krebskranken Körper in den „Via Intolleranza II“-Ring zu steigen, um dem konventions- und klischeebeladenen Zynismus der westeuropäischen Nachdenker_innen ein fröhliches „Ihr kotzt mich an“ entgegenzurufen? Und schließlich: Dürfen wir als gebildete Kulturmenschen bei „Wenn Teenager träumen“ mitsingen?
Klar dürfen wir das! Klar darf Theater auch mal platt sein und ganz übel sentimental zum Mitheulen einladen. Klar sollten wir Theater nicht nur verstehen, sondern auch spüren. Klar kann man am Theater nicht nur rational-argumentativ verhandeln, sondern auch emotional. Natürlich ist das reduktiv und immer ein bisschen heikel. Aber Gänsehaut muss nicht immer gleich automatisch „Ätsch! Reingefallen!“ bedeuten, reingefallen auf die kalkulierte Inszenierung einer bestimmten Gefühlswelt. Gänsehaut kann einen Denkprozess auch erst auslösen, der sonst nie passiert wäre. Gänsehaut, durch einen zärtlichen Troll hervorgerufen, ermöglicht den Zugang zu einem unterkühlten Medien-Stück, eine reflektierende „Beteiligung“, die sonst wohl einfach im Konjunktivdschungel verlorengegangen wäre. Gänsehaut, durch dramatischen Philip Glass-Streichersoundtrack hervorgerufen, ermöglicht es, „Tod eines Handlungsreisenden“ nicht nur als arg konstruierte Fallstudie zu Kapitalismus und seinen Folgen zu verstehen, sondern als (Melo)Drama, das die Brutalität unseres Wirtschaftssystems intensiv spürbar macht. Und Gänsehaut ermöglicht es Sebastian Bark schließlich, die Auseinandersetzung mit seinem Vater auf einer Ebene zu führen, zu der er zuvor nie Zugang hatte. Weil das „Ätsch! Reingefallen!“ ja auch immer dieses so notwendige Sich-Einlassen voraussetzt, kein leichtfertiges, sondern abwägendes, zögerndes Sich-Einlassen, das erst ein reflektiertes Spannungsfeld aufzeichnet, um das emotionale Eintauchen danach umso spürbarer zu machen.