112-mal kommt Gott in seinem „Tagebuch einer Krebserkrankung“ vor. Wesentlich öfter als Joseph Beuys. Christoph Schlingensief ist kein Atheist, sondern, wie er selbst sagt, „praktizierender Christ“. Er zahlt Kirchensteuer und würde dem Papst gerne mal die Meinung sagen. In unserem Lagebericht zur Theologieverträglichkeit seiner Kunst sind sich zwei Priester uneins. Hören Sie unter dem Beitrag außerdem, was Schlingensief selbst über Himmel, Glaube, Blasphemie, das göttliche Prinzip und den Vatikan sagt.
„Jesus ist trotzdem nicht da, und Gott ist auch nicht da, und die Mutter Maria ist auch nicht da.“ Es scheint schlecht bestellt um Glauben und Gottvertrauen in Christoph Schlingensiefs Inszenierung „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“. Angesichts seiner Krebserkrankung sind alle Gewissheiten in Frage gestellt, und die Wut auf die Unerklärlichkeit und Ungerechtigkeit des Schicksals bricht sich in einem brachialen Oratorium Bahn.
Terror und Angst
Dass Schlingensief für seine Kunst eine Kirche errichtet, ist Wahnsinn und Methode zugleich. Der 48-Jährige ist ein passionierter Kunstkirchengründer: Im Jahr 2003 hat er seine internationale „Church of Fear“ erstmals auf der Biennale in Venedig präsentiert, um von dort seine Botschaft gegen die Angst in die Welt oder zumindest ins World Wide Web zu tragen; in Kathmandu und Frankfurt hat er Willige auf Pfähle gesetzt, die unter sich den „Säulenheiligen der Moderne“ ausspielten; anlässlich des katholischen Weltjugendtags 2005 gab es als Alternative zum Kölner Dom eine kleine Holzkapelle auf dem Dach eines Museums und die Ankündigung, dass der Papst zu Besuch kommt (der dann allerdings nur in der Ferne vorbeizog). Stilisiert als das „schlechte Gewissen der Kirche“ war die „Church of Fear“ vor allem ein politikkritisches Happening, das den amerikanischen Krieg gegen den Terror und die weltweite Kollektivhysterie nach 9/11 aufs Korn nahm.
Schlingensief aktuelle „Kirche der Angst“ ist in dieser Hinsicht ein privatisiertes Negativ des ursprünglichen Projekts. Das persönliche „Recht auf Terror“, das er mit der „Church of Fear“ noch augenzwinkernd einforderte, ist 2008 zu einer existenziellen Auseinandersetzung mit dem möglichen Krebstod geworden. In einem theatralen Triptychon hat Schlingensief seine (Todes-)Angst verarbeitet, vom „Zwischenstand der Dinge“ im Berliner Maxim-Gorki-Theater im Juni 2008 über „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ im Herbst 2008 bei der Ruhrtriennale bis zur Ready-Made-Oper „Mea Culpa“, die im März diesen Jahres am Wiener Burgtheater Uraufführung hatte.
Die großen Fragen der Theologie
Bei soviel Kirchenbezug wabert der Blasphemieverdacht, aber: Alles halb so schlimm! Der Berliner Jesuitenpater Klaus Mertes hat sich Schlingensiefs Aufführung beim Theatertreffen angesehen. Er spricht den Künstler vom Blasphemieverdacht frei, trotz der Gottesdienstsimulation und des ironischen Spiels mit Versatzstücken der katholischen Liturgie. „Der Protest gegen Gott ist ein Teil der christlichen Frömmigkeit“, sagt Mertes und verweist darauf, dass „Blasphemien gegen Gott“ auch in der Bibel stehen, im alttestamentarischen Buch Hiob etwa.
Auch Michael Dörnemann bringt Hiob als Erklärung ins Spiel. Allerdings schwankt der Pfarrer der Oberhausener Herz-Jesu-Kirche, in der Schlingensief seine Ministrantenjugend verbracht hat, was die Blasphemiefrage angeht. Irritiert ist er schon von Schlingensiefs Kunstkirche, aber auch nachsichtig: „Für mich hat das Religiöse einen anderen Stellenwert. Aber das Heilige ist so heilig, dass niemand es verletzen kann.“ Berührt hat ihn die Inszenierung, obwohl er sie bisher nur am Fernseher erlebt hat. Besonders beeindruckt ist er vom Nachbau des Innenraums der Herz-Jesu-Kirche; bis ins Detail – Altar, Fenster, Ambo, Lesepult, der rote Teppich in der Mitte, die Aufstellung der Mikrophone – nachgebildet sei das Original, in dem er täglich seinen Dienst tut.
Ärger beim Abendmahl
Fern von Oberhausen hält sich Pater Mertes beim Bühnenbild nicht lange auf, für ihn ist Schlingensiefs Inszenierung „ein Stück, das die großen Fragen der Theologie thematisiert“. Sauer war er am Schluss trotzdem. Nicht etwa wegen Schlingensiefs provokanter Symbolik oder dessen Kirchenschelte, sondern weil der Künstler in der Abendmahlsszene selbst in sein Werk einsteigt und „damit das Kunstwerk zerstört“. Der erweiterte Kunstbegriff, wie ihn Schlingensief frei nach Beuys immer wieder postuliert hat, will Mertes nicht einleuchten. „Das ist für mich die entscheidende Frage an das Stück: An welcher Stelle macht er sich selbst und seinen Tod zum Kunstwerk und entwürdigt damit sich und seinen Tod?“
Dörnemann hält Schlingensiefs Abendmahlumdeutung zwar für diskussionswürdig, aber ein grundsätzliches Problem mit der Selbstdarstellung des Künstlers hat er nicht. Schlingensiefs persönlichen Auftritt findet er im Kontext des Stücks folgerichtig: „Es ist seine individuelle Auseinandersetzung, und die geht einem nahe.“ Die Fernsehausstrahlung der Inszenierung hat der Pfarrer jedenfalls aufgenommen, um einzelne Szenen vielleicht mit der Gemeinde zu diskutieren.
Auch die Kunst muss schweigen
Gibt es heute also keine Grenze mehr für die Kunst? „Weiß ich nicht“, sagt Pater Mertes, „ich bin nicht dafür zuständig, Künstlern Grenzen zu setzen.“ Allerdings fühlt er sich von Schlingensiefs Absage an eine Begegnung im Himmel doch persönlich angegriffen. „Er soll mir nicht sagen: ich will dich im Himmel nicht wiedersehen,“ erklärt der Jesuit verärgert. Sein Kollege Dörnemann hingegen hat mit der negativen Willensäußerung des Künstlers überhaupt kein Problem, sondern schmunzelt über die „sehr menschliche Vorstellung“ vom Himmel.
Jenseits der Himmelfahrt enthält Schlingensiefs Ode auf den Sterbenden für Mertes allerdings noch ein anderes grundlegendes Dilemma – das der Todesverhandlung. „Auch die Kunst muss gegenüber dem Unsagbaren irgendwann schweigen, genauso wie übrigens die Theologie.“ Da ist sie dann also doch, die Grenze der Kunst. Schweigen aber ist für den erzählwütigen Schlingensief keine Alternative, so muss seine Art der Auseinandersetzung zwangsläufig mit Mertes’ Eschatologie-Verständnis kollidieren.
Gemeinsam gegen die Niedlichkeit
Für den Kampf gegen die Verwässerung der Religion scheint sich trotzdem ein Bündnispotential abzuzeichnen. „Es gibt so ein bürgerlich verniedlichtes Christentum,“ sagt Mertes, „gegen das sich ja Schlingensief vielleicht auch wendet, und da hat er mich voll an seiner Seite.“ Im nächsten Stück auftreten will der Geistliche dennoch nicht, aber den Künstler für den Vatikan-Pavillon bei der Kunstbiennale 2011 empfehlen, würde er grundsätzlich schon, wie auch Pfarrer Dörnemann, der sich allerdings vorher alles noch mal genau anschauen müsste.
Angesichts von Schlingensiefs umfangreichen Erfahrungen, Kunstbetrieb und Kirche zu verbinden, ist zumindest anzunehmen, dass der Vatikan auch jenseits der Schlagzeilen von einer Zusammenarbeit profitieren würde. Auch weil der Charismatiker Schlingensief seine Kunst immer wieder als eine Messe von Wut und Hoffnung zelebriert, in der er nicht etwa mit Gott abrechnet, sondern die höheren Wahrheiten zu Diskussion stellt. Es wäre, in einem anderen Leben, wahrscheinlich ein guter Priester aus ihm geworden.