Blutige Nasen. Weinende Männer. Kaputtes Geschirr. Was hatten wir nicht alles erwartet vom Höhepunkt des Theatertreffens – der Jury-Diskussion. Die sieben Juroren stellten sich dem Publikum – und alles blieb gähnend friedlich. Wir haben nichts Neues erfahren und fassen es trotzdem zusammen.
Abwesenheit: War, mit Blick auf Marthalers „Waldhaus„, selbstverständlich ein großes Thema. Die Nichtzeigbarkeit führte zu einer Grundsatzdiskussion über den Trend zum „stationären Gesamtkunstwerk“ und das Problem der „Verpflanzbarkeit“. Stefan Keims (freier Theaterkritiker, unter anderem WDR, Frankfurter Rundschau, Die Welt) Einwurf, dass das Theatertreffen sich über kurz oder lang zwischen „zeigbar“ und „wirklich bemerkenswert“ entscheiden müsse, wurde von Christopher Schmidt (Süddeutsche Zeitung) mit „Das ist doch Satire“ ausgebremst. Warum eigentlich?
Arroganz: Wohl ihre beste Szene hatte die Jury, als sie den Arroganzvorwurf bezüglich der Einladung des Nichtzeigbaren im Fall Marthaler damit konterte, dass es wohl auch arrogant sei, nur das für bemerkenswert zu erachten, was sich im Haus der Berliner Festspiele umsetzen lasse. Touché!
Befangenheit: Wurde, als Prüfstein der Kritik angesichts der inszenierten Person bei Meyerhoff und Schlingensief, eingestanden, aber auch nach vorne verkauft: „Es ist doch nichts nerviger als zwanghaft eine Objektivität im Urteil anzustreben“, wehrte sich Stefan Keim gegen den Vorwurf einer Bankrotterklärung.
Betroffenheitstheater: Ein aus dem Publikum eingeworfener Begriff, gemünzt primär auf den Biographismus Schlingensiefs und Meyerhoffs, aber auch den Einbruch des Authentischen in Löschs „Marat/Sade“ oder den Kult um den todkranken Jürgen Gosch. Wurde von der Jury auf dem Podium nicht weiterverfolgt. Schade!
Claus Peymann: War auch abwesend, steckte aber Eva Behrendt (Theater heute) nach dem Kritikerstreit vom Vorabend noch merkbar in den Knochen. Von hier aus gute Besserung!
Empathiefähigkeit: Wurde einer Zuschauerin abgesprochen, die sich von „Wunschkonzert“ nicht angesprochen fühlte und die Relevanz des Inszenierungskonzeptes (und damit die Einladung) in Frage stellte.
Ergriffen: Wollten alle gern sein. Zumindest die Jury war’s wohl in den meisten Fällen. Vor allem Meyerhoff, Schlingensief und Gosch wurden wiederholt als Beispiele ins Feld geführt.
„Idomeneus“: Ein Zuschauer ereiferte sich über die Heulorgien bei Gosch – grundsätzlich Verwirrung bis aufgeklärt werden konnte, dass die Inszenierung, auf die sich die Kritik bezog, überhaupt nicht eingeladen war. Dementsprechend allgemeine Erleichterung im Anschluss.
Irritation: Wurde hier und dort vermisst, was von Peter Müller (Tages-Anzeiger) mit „Der Vorwurf der mangelnden Irritation irritiert mich sehr“ kommentiert wurde. Dem hierzu führenden Einwurf aus dem Publikum wurde im Anschluss implizit Plumpheit unterstellt, als es hieß, man wolle „nicht jeden Abend angepöbelt“ werden, vielmehr auch die „sanften Widerhaken“ zu spüren bekommen. Aua.
Kein Blatt Papier: Passte laut Wolfgang Höbel (Spiegel) zwischen die Mitglieder der „harmonischsten Jury aller Zeiten“. Dieses nett gemeinte Bekenntnis zu einem letztlich bedrohlichen Totalitarismus des Kollektivs wurde durch die widerborstigen Positionsnennungen einzelner Jurymitglieder Gott sei dank konterkariert.
„Rechnitz“: Das Jelinek-Stück, 2008 von Jossi Wieler an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt, übernahm in der Diskussion stellvertretend die Stelle aller Stücke, die zu Unrecht nicht eingeladen wurden. Das Thema Abwesenheit (siehe oben) wurde auf diese Weise noch einmal anders (und langwierig) ins Gespräch gebracht. Außerdem zeigen sich anhand der Bekenntnisses zu bzw. gegen „Rechnitz“ erste Brüche im Jury-Kollektiv.
Serienprodukt: Lautete die Jurybegründung zur Nichteinladung des Jelinek-Stücks. Dass dies auch auf Stemanns „Räuber“, Mitchells „Wunschkonzert“ und vor allem Marthalers „Waldhaus“ zutrifft, ließ das Publikum ausdauernd grummeln.
Trends: Waren offenbar schwerlich auszumachen. Einige nannten das „Schicksal von Einzelpersonen“, andere mahnten daraufhin zu Recht an, dass aus zwei Ereignissen (Schlingensief, Meyerhoff) noch kein Trend abzulesen sei. Auf eine Eingemeindung des Hartz IV-Chores aus Löschs „Marat/Sade“ in diese Reihe wurde richtigerweise verzichtet.
Zehn: Klare Worte gab’s von Wolfgang Höbel zur Jury-Auswahl anlässlich der Kritik am abwesenden Marthaler-Waldhaus. „Ich finde, diese zehn waren’s“. Aus. Schluss. Ende.
Zusammengestellt von Kristin Becker und Johannes Schneider.