Die Texte der Anderen

Der Autor ist tot, es lebe das Kollektiv: Der Dramatikerworkshop beim Stückemarkt des tt09 löst die Grenzen zwischen Autorenschaft und Lektorat zeitweise auf. Eine Bilanz aus dem Zentrum der Textdiskussion zwischen dem Workshopleiter, Schriftsteller und Dramaturgen John von Düffel und fünf Nachwuchsautoren.

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"Braucht es in deinem Text wirklich den Zentralfriedhof?" Beim Workshop um John von Düffel wird es auch mal grundsätzlich. Foto: Johannes Schneider

Das ist kein emotionales Gruppenkuscheln. Es ist auch kein Treffen monomanischer Autisten, kein Schaulaufen vollendeter Genies oder sonst eine Reproduktion eines Schriftstellerklischees, in dem das Zusammentreffen mehrerer auf die ein oder andere Weise den Ruch des Vergeblichen hat. Das hier ist Werkstatt pur, gnadenlos, ehrlich und gnadenlos produktiv: „Ich weiß nicht, ob du dir bewusst bist, dass das zumindest für Wiener ganz schöne Klischeesätze sind, die deine Figuren da äußern.“ „Der Gebrauch der verschiedenen Sprachen erscheint mir nicht ganz schlüssig.“ „Braucht es in dem Text wirklich den Zentralfriedhof?“

Sprache, Ort, Charakterzeichnung – alles scheint diskutierbar

Was die Wiener Dramatikerin Ursula Knoll und ihr Text „Netz/Nest“ an diesem letzten Morgen beim Dramatikerworkshop des tt Stückemarkts aushalten müssen, ist nichts für schwache Nerven. Im Verlauf der einstündigen offenen Diskussion stellen die vier anderen Kursteilnehmer und Mentor John von Düffel so ziemlich alles in Frage, was die Substanz eines Textes konstituiert: Sprache, Ort, Charakterzeichnung – alles scheint diskutierbar. Respekt vor der Autorin äußert sich in lebhafter Auseinandersetzung mit ihrem Stücktext.

„Am Schlimmsten sind die Leute die sagen ‚Ich kann damit nichts anfangen und nehm’ mich da jetzt völlig raus'“, sagt dazu Workshop-Teilnehmer Stephan Lack. „Das kränkt mich wirklich persönlich. Ein Statement aus dem Bauch heraus ist mir lieber, als wenn sich jemand gar nicht mit mir auseinander setzt.“

Es darf nur nicht persönlich werden

„‚Ich mag deinen Stil nicht, du schreibst immer denselben Scheiß und hast noch nie eine ordentliche Figur zusammengebracht‘.“ Solche Anwürfe, sagt Ursula Knoll, seien die, die sie ernsthaft aus der Fassung brächten. Mit Lacks von Wiener zu Wienerin geäußerten Klischeevorwurf kann die werkstatterfahrene Autorin der Wiener Wortstaetten (Sic!) hingegen bestens umgehen: „Ich muss noch deutlicher machen, dass das, was er meint, ein Mittel ist.“

Dass ein nur viertägiger Intensiv-Workshop, wie er beim tt09 stattfindet, im zunehmenden Aufkommen von Schreibwerkstätten und Schreibschulen seine besondere Berechtigung hat, davon ist Workshop-Teilnehmerin Charlotte Roos, Absolventin des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig, überzeugt: „Es ist immer gut, wenn man sich nicht kennt. Auf die Dauer hat man häufig einen ungünstigen Kollektivprozess: Kritik wird zu massiv und gleichzeitig kraftlos, wenn sich erstmal Koalitionen gebildet haben und man sich an Geschmacksurteilen abarbeitet.“

Im doppelten Sinn über Strukturen nachdenken

Direkt bewerten wollen sie die Werke der jeweils anderen dann auch allesamt nicht: „Durch eine Wertung verstelle ich mir den Text“, ist Ursula Knoll überzeugt, und auch Charlotte Roos möchte, anstelle der Wertung, lieber „im doppelten Sinn über Strukturen nachdenken“, darüber, „wie etwas auf der Makroebene gebaut ist und eventuell umgebaut werden muss, um es schlüssig zu machen, und wie man auf der Mikroebene eingreifen kann, um den Text insgesamt zu verbessern“.

Wie diese Haltung des Mitschreibens am anderen Text im Extremfall aussehen kann, macht Stephan Lack deutlich: „Ich mache mir jeden Text, den wir besprechen, zu eigen. Ich sehe mit dem Blick drauf, als hätte ich ihn geschrieben.“ Der Dramatikerworkshop hat ihm dazu offensichtlich Material geboten: „Ich möchte an euren Texten weiterarbeiten“, sagt er zu seinen Mitschreibern. Dann geht die Textarbeit weiter: „Ich finde manche Episoden in deinem Text etwas abgekoppelt. Diese Amerikanerin – brauchen wir die überhaupt?“

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Johannes Schneider

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