Christoph Marthaler macht gerne Theater außerhalb herkömmlicher Theaterarchitektur – und an ungewöhnlichen Orten, die meist bereits eine ganz eigene, im Verborgenen bleibende Geschichte erzählen, entstehen oft die besten Produktionen des Schweizer Regisseurs.
2005 entstand auf und hinter der sowie um die Bühne des auf dem Gebiet der Wiener Nervenklinik Baumgartner Höhe gelegenen Renaissancetheaters eine der besten Produktionen Marthalers, der fast vierstündige Abend „Schutz vor der Zukunft„: Die Anreise dauerte aus dem Stadtinneren eine knappe Stunde, der Gang ins Theater wurde so zu einer Reise in eine andere Welt, an einen Ort mit einer unsichtbaren Geschichte, einer Vergangenheit voll Verbrechen und Elend, die auf einmal, in der Inszenierung Marthalers, aufs Erschütterndste Gegenwart wurde.
Letztes Jahr dann erarbeitete Marthaler gemeinsam mit seiner langjährigen Bühnenbildnerin Anna Viebrock für die Wiener Festwochen den dieses Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Theaterabend „Riesenbutzbach“. Der Wiener Ort: Eine alte Studiohalle in der unbekannten Filmstadt Wien, weit außen im 23. Bezirk. Die Anreise beanspruchte wieder über eine Stunde, der Eingang führte durch ein großes Tor, vorbei an einem kleinen Parkplatz und durch einen hinterhofartigen Weg. Man hatte das Gefühl, an einem längst vergessenen und menschenleeren Ort anzukommen – an dem man vieles, nur nicht eine solche Wohnsiedlung, wie sie Anna Viebrock in eine der Hallen bauen ließ, vermutet hätte. Dass die Rosenhügel-Studios der Filmstadt Wien sehr wohl noch Raum bieten für aktuelle Filmproduktionen, war dabei nicht zu spüren – da irritierte schon viel mehr die zeitgemäß-stilvoll ausgekleidete und in festlich-farbiges Licht getauchte Zusatzhalle im Eventdesign der Wiener Festwochen, in der vor und nach der Vorstellung Essen und Getränke verkauft wurden – wodurch die sonst so dichte Stimmung des Ortes und des Abends um eine widersprüchliche Dimension erweitert wurde.
In Berlin fehlt diese Zusatzdimension. Im größeren und zentraler liegenden Hangar 5 des ehemaligen Flughafens Tempelhof sind Garderobe und Getränketheke rein provisorisch errichtet; der After-Show-Bereich ist nur abgetrennt durch ein paar Absperrbänder. Die Halle bleibt Halle, Gemütlichkeit will sich nicht einstellen. Bis hin zu den unangenehm niedrigen Temperaturen und der katastrophalen Akustik, die den Zuschauern auf den hinteren Plätzen einige Freude am Abend vereiteln dürfte, bleibt hier der Ort erfahrbar: Nur riesige Molton-Wände trennen Zuschauer- und Bühnenraum vom Rest der Halle, retten damit vielleicht noch ein klein wenig den Klang, nehmen aber auch das bedrückende Gefühl des Ausgeliefertseins, das sich vielleicht einstellen würde, wenn die Zuschauertribüne verloren und unverhüllt in der Mitte des gigantischen Hangars stünde.
Es sind diese Nicht-Theater-Räume, die Marthalers Produktionen schon beginnen lassen, bevor der Zuschauer auf seinem Platz sitzt – und die sie weiterlaufen lassen, wenn man längst schon wieder nach Hause gefahren ist. Noch auf dem Heimweg thront die bedrohliche Architektur des stillgelegten Flughafens hinter einem, wie eine Ruine aus einer anderen Zeit zeichnen sich die Silhouetten des riesigen Gebäudekomplexes ab vor einem dunklen Himmel. Der Zuschauer wird zum Besichtigenden, der Theaterabend zur Reise an vergessene Orte: Und am Ende, im Zentrum der bewegenden Inszenierungen Marthalers, steht unerwartet und überwältigend: eine augenöffnende Entdeckung.