Beim diesjährigen Theatertreffen lauerte die Musik überall. Ob gesungen oder instrumental, live oder aus der Konserve (wie es so schön heißt!), kaum eine Inszenierung kam ohne aus. Weil ich nicht an Zufälle glaube, soll anhand von vier TT Inszenierungen (von Katie Mitchell, Sebastian Hartmann, Johan Simons und Jérôme Bel) der Versuch einer Annäherung an das Phänomen „Musik im Theater“ unternommen werden.
„Reise durch die Nacht“: Beischlafmusik und Breitwandpiano
Diese Reise ist eine innere. In Friederike Mayröckers „Reise durch die Nacht“ ergründet die Erzählerin ihre eigene, verschüttete Vergangenheit. Der Grund für ihre Schlafstörungen, für die „auffliegenden Vögelschwärme in ihrer Brust“ bleibt vage, der Text flüstert eher, anstatt konkret zu werden. Katie Mitchells Regie reizt Mayröckers Anspielungen bis zum Anschlag aus, der „Pfeifenvater“ wird zum Prügler, das stille Sehnen der namenlosen Protagonistin (Julia Wieninger) entlädt sich in einer kurzen, heftigen Sexszene mit einem Unbekannten, dem Zugbegleiter.
Bevor man einmal die Sitzposition gewechselt hat, ist das Stück zu Ende. Dass die „Reise durch die Nacht“ eine so kurzweilige ist, liegt nicht nur an der mit 75 Minuten knappen Spielzeit, sondern auch an der filmischen Ästhetik, die der Wahrnehmungsmodulation eines auf Liveticker gepolten Publikums sehr entgegenkommt.
Keine Frage: Die Musik trägt wesentlich zur larmoyanten Herzschmerz-Stimmung der Inszenierung bei. Während unten die Bühnenarbeiter wuseln, gipfelt es oben auf der Leinwand im Minutentakt, ein emotionaler Höhepunkt nach dem anderen. Meist ist die Musik eine indirekte, das heißt, in der theatralen Logik hörbar nur für die Erzählerin, etwa, wenn sie ihren CD-Player gegen die Schlaflosigkeit bemüht, oder sie ist der Handlung ausgelagert und nur hörbar für die Zuschauer. Eine Ausnahme ist das Lied von Joy Divison, das der Zugbegleiter abspielt, um eine Stimmung herzustellen, die auf dem schnellsten Weg zum Beischlaf führt. Da hören die Figuren auf der Bühne die Musik gemeinsam: ein intimer Moment.
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Eine Patina aus Regentropfen auf der Leinwand, das verschmierte Make-Up der Hauptdarstellerin, und über allem wogt die Musik. Diese Selbstbespiegelung in Breitwandformat bedient möglicherweise jenen Teil des Gefühlshaushalts, den rationale Menschen gerne von sich schieben (schamlosere Existenzen lesen deswegen Rosamunde Pilcher). Man kann in Katie Mitchells Inszenierung eine Verkitschung (wie hier Dirk Pilz in der Berliner Zeitung) sehen, die Reduktion der feministischen Vorlage auf ein Vorabendserienformat. Man kann die dem 19. Jahrhundert verhafteten Hauptfiguren beklagen und die Gefälligkeit der musikalischen Dauerpräsenz. Dann allerdings entgeht einem ein Wahrnehmungsvollprogramm, Synästhesie total. Wer so argumentiert, ist, glaube ich, nie durch die Nacht gereist, mit Kopfhörern auf den Ohren, die alles um einen herum ausblenden, mit dem Soundtrack, der nur einem selbst gehört.
„Krieg und Frieden“: Utopie ohne Ohrstöpsel
Sascha Rings Musik zielt auf Überwältigung. Für Sebastian Hartmanns Inszenierung von „Krieg und Frieden“ hat er „Music for Theatre“ geschrieben, das akustische Pendant zu Tilo Baumgärtels weltbehauptendem Bühnenbild. Auf dieser schiefen Ebene gleiten all jene herunter, die es gewagt haben, sie zu betreten, sie perlen ab wie Wassertropfen von Fensterscheiben. Ebenen heben und senken sich, Menschlein kugeln wie Kinder den Hügel hinab: So ist das Schicksal. Zum Trost rollt Sascha Ring, der unter dem Namen „Apparat“ für gewöhnlich eher Clubs als Theater bespielt, Klangteppiche aus, nicht weniger monumental als die Bühne und das Geschehen auf ihr. Diese Musik dröhnt und zittert, sie bricht als Welle über dem Zuhörer zusammen, sie reißt ihn zu Boden und richtet ihn gleich wieder auf, sie umfängt ihn und wickelt ihn ein. Affirmativ ist sie in ihrer Behauptung, dass alles gut wird.
Wer „Music for Theatre“ losgelöst vom Theaterabend alltäglichen Tätigkeiten unterlegt, kann damit selbst den Gang zum Supermarkt zum Gesamtkunstwerk erheben. Da haben wir sie wieder, die Einladung in die eigene Innerlichkeit. Einige wittern Ästhetizismus und bitten um Ohrstöpsel. Es stimmt ja: Anders als in der „Reise durch die Nacht“ lecken die Figuren nicht bloß Vergangenheitswunden, sondern es geht um Katastrophen, die sich ihrer Handlungsmacht entziehen: Krieg, Tod, das große Ganze. Napoleons Sturm auf Russland verkehrt sich in berührende Melodien, der Tod ist ein Händeringen zum Himmel in Moll. In Kriegsfilmen empfindet man derartige Affektionen als Kitsch. Dies aber ist das Theater, dies ist der geteilte Raum. Wir tragen keine Kopfhörer, die uns gegen die Umwelt abschirmen, sondern wir folgen dieser Einladung gemeinsam im Kollektiv. Wir proben eine Utopie.
„Die Straße. Die Stadt. Der Überfall“: Störfall Leitmotiv
Diese Straße ist voller Musik. Ihre Schöpferin Elfriede Jelinek will es so (und ist bekanntermaßen sehr genau, was die Uraufführung ihrer Werke betrifft). Anders als in den zuvor beschriebenen Stücken, kommt die Musik in „Die Straße. Die Stadt. Der Überfall.“ nicht vom Band, sondern von einem fünfköpfigen Orchester und von den singenden Schauspielern. Links neben dem Piano schnauft Rudolph Moshammer seinem Lebensende entgegen. Abwechselnd mit Sandra Hüller haucht er Jelineks Texte ins Mikrofon, auf dem Weg dorthin muss er sich um die Musiker herummanövrieren.
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In der Stückfassung heißen die musikalischen Passagen Leitmotiv. Carl Oesterheit macht daraus Störfälle, die sich zwischen die Handlung drängen wie zuspätkommende Theaterbesucher in die besetzten Reihen. Besonders „Mosis“ musikalische Ergüsse („O mei, die Birne kaputt“) rufen den Wunsch im Zuschauer wach, dieser möge sich mit Sprechen begnügen. Dem Orchester kommt in Johan Simons Inszenierung die Rolle des teilnehmenden Beobachters zu. Aus einem halboffenen Glaskubus heraus verfolgen die Musiker mit zur Seite geneigtem Kopf das Geschehen oder schmunzeln über die Pointen der Darsteller, dann wieder warten sie auf ihren Einsatz, ohne sich vom Gehabe behelligen zu lassen. Musik ist bei Jelinek ein die Sprache ergänzendes Mittel, um den Zuschauer auf die Misstöne der Welt zu stoßen. So fragmentarisch und auf Überforderung zielend die Satzflächen, so dissonant ist meist diese Musik (manchmal ergießt sie sich auch in breiten chorischen Flächen).
„Disabled Theater“: me, myself and music
Jérôme Bel ist Tänzer und denkt auch als Regisseur in den Parametern eines solchen: Musik hat für ihn nichts anti-theatrales, sondern ist wesentlicher Bestandteil seiner Arbeiten. Bevor die Darsteller in „Disabled Theater“ zu tanzen beginnen, ist die Kluft zwischen ihnen und den Zuschauern durch die Benennung ihrer Behinderung gegeben. Das ändert sich, sobald die Bässe und Rhythmen und Melodien durch den Raum schallen. Sie funktionieren als Bindeglied zwischen den Schauspielern des Theater Horas und den Menschen im Zuschauerraum. Allein die Vorstellung davon, wie der x-beliebige Theatergänger, zum Beispiel Herr Müller in der dritten Reihe allein vor dem Spiegel zu seinem Lieblingssong abrockt, schafft einen egalitären Moment. Bels Ansatz erinnert an die Arbeit der niederländischen Fotografin Rineke Dijkstra, die für die Serie „The Buzzclub“ Jugendliche in einer Großraumdisko poträtierte. So unbeholfen manche der pubertierenden Körper schlakseln, drückt doch jede ihrer Bewegungen Leidenschaft aus.
Die Schauspielerin Julia Häussler wählt Michael Jacksons „They don’t care about us“. Man muss dem keine Metaebene unterjubeln, wie viele Kritiker dies taten. Interessanter als die Botschaft des Textes sind die sexuell konnotierten Bewegungen der Darstellerin. Was wir bei Britney Spears hinnehmen, das Über-die-Brust-Streifen, der kokette Rechtsdreh mit der Hand am Kinn, all die Gesten, die Teil der popkulturellen Zeichensprache sind, insbesondere der von Michael Jackson verinnerlichte Griff in den Schritt, erregen plötzlich Anstoß. Dass sie das tun, verrät viel über die Haltung der Zuschauer und die tabuisierte Sexualität von Menschen mit Behinderung.
Im gemeinsamen Hören und Beklatschen versichert sich das Publikum seiner Kultur. Für die Darsteller hingegen bedeutet die Musik Emanzipation. Aus ihren Choreografien spricht Losgelöstheit, nicht, weil sie sich aufgrund ihrer Behinderung weniger gut bewegen könnten, sondern, weil der äußere Blick keine Rolle spielt. Hierin liegt die Stärke der Inszenierung: Jérôme Bel macht seine Darsteller nicht zu Objekten, schon gar nicht zur befürchteten „Freak Show“. Es spielt keine Rolle, wer ihnen zusieht, sie gehen auf in der Musik. Warum sollen Menschen mit Behinderung nicht genauso peinlich, weil hemmungslos tanzen dürfen, wie Rineke Dijkstras Teenies? Warum sich nicht in den Schritt greifen und mit dem Publikum flirten wie jedes Popsternchen auf MTV?
Ausklang
Musik im Theater: Schafft Stimmungen. Weckt Erinnerungen. Appelliert an das Kollektiv. Setzt Akzente. Reißt Risse in die lineare Handlung. Pathologisiert. Pathetisiert. Steht an der Rampe, hängt im Schnürboden, wartet im Orchestergraben auf ihren Einsatz. Wer sie einsetzt, läuft Gefahr, sie als emotionalen Trigger zu missbrauchen. Hat aber auch die Chance, Dinge auszusprechen, die über die Sprache hinausgehen. Musik im Theater: Sie war nie wirklich weg, jetzt ist sie zurück. Positionieren Sie sich!