Die chilenische Autorin und Theatermacherin Manuela Infante hat mit der Performance „Estado Vegetal“ den Werkauftrag beim Stückemarkt gewonnen. Unser Autor sah einen rätselhaften Theater-Installations-Hybrid aus dem Reich der Grünpflanzen.
Verglichen mit den Pflanzen sind wir Menschen ein Klacks. Pflanzen gibt es seit 485 Millionen Jahren, Menschen seit 300.00 Jahren. Pflanzen haben auf der Erde ein Gewicht von 450 Gigatonnen Kohlenstoff, Menschen von 0,06 Gigatonnen. Von Pflanzen gibt es 390.000 Arten, von Menschen nur eine. Warum also fühlen wir uns so sicher? Warum zieht niemand in Erwägung, dass Pflanzen die Herrschaft übernehmen könnten? Manuela Infante gibt diesen Überlegungen eine Bühne. Die chilenische Theatermacherin zeigt mit „Estado Vegetal“ beim Stückemarkt des Theatertreffens eine Performance, die sich nicht auf scheinbare Gewissheiten verlässt. Das Motto: Bloß weil wir nicht sehen können, wie sich ein Baum bewegt, heißt das nicht, dass der Baum sich nicht bewegt.
Ein Baum ist das Zentrum des Stücks. Ein Motorradfahrer kracht in ihn hinein und wird anschließend in eine Pflanze verwandelt. In einer Anlage nach Art des analytischen Dramas wird nun auf der Bühne verhandelt, was eigentlich passiert ist. Doch so wirklich bekommt der Zuschauer den Plot wegen der schnellen Abfolge der englischen Übertitel über dem spanischen Original nicht zu fassen. Was sich sicher sagen lässt: Es ist ein reichlich mystisches Erlebnis ist, dem das Publikum hier beiwohnt.
Apotheotische Strahlen im Nebel
Die Schauspielerin Marcela Salinas bestreitet den Abend allein. Sie verkörpert mehrere Rollen, die von dem Vorfall mit dem Motorradfahrer in einer Art Interview berichten. Sie gibt den Personen charakteristische Stimmen und akzentuiert ihre Gesten unterschiedlich. Mal zuckt sie und sticht mit der rechten Hand in die Luft, mal befeuchtet sie ihre Fingerspitzen mit Speichel und reibt damit über ihren Ellenbogen, mal läuft sie demütig gebückt. Salinas zeigt in ihrem Spiel eine große Wandlungsfähigkeit und strenge Ernsthaftigkeit. Sie beeindruckt.
Der von Rocío Hernández designte Bühnenraum erinnert derweil an ein Fernsehstudio. Von der Decke hängen Scheinwerfer, kreisförmig um die Mitte der Bühne herum angeordnet. Von ihnen kommt warmes Licht, das auf einen Tisch, einen Stuhl und eine Topfpflanze trifft. Von diesem Arrangement geht große Ruhe aus. Es harmoniert auf eigentümlich schöne Weise mit Salinas Outfit: Blasses kurzärmeliges Hemd in einer Farbe zwischen pfirsich und pink, blasse blaue Jeans und mattgrüne Schuhe.
Polyphone Atmosphäre
Das alles hat etwas Installatives. Die Lichtregie ist auffallend ästhetisch und besticht mit schimmernden Pflanzenblättern in sanftem Glanz und apotheotischen Strahlen im Nebel. Viele szenische Elemente sind schlichtweg hübsch. An einer Stelle hüpft Marcela Salinas über die Bühne und ist ein Wesen zwischen Kind und Affe. Später sieht man eine Showtreppe aus Pflanzen und beobachtet diese dabei, wie sie ihre Blätter schwenken. Und „Estado Vegetal“ ist auch ein Klang-Erlebnis. Salinas nutzt ein Mikrofon, mit dem sie sich selbst aufzeichnet und die Aufnahme anschließend abspielt. Sie verschränkt dabei verschiedene Soundebenen und erzeugt eine polyphone Atmosphäre.
An einer Stelle zerreibt sie ein Blatt direkt vor dem Mikrofon und fügt später das Knacken von Ästen hinzu. Aus den verschiedenen Geräuschebenen wird so der Klang eines Lagerfeuers, das man vor sich zu sehen glaubt. Auf gleiche Weise lässt sie einen Baum sprechen. Er tropft, schmatzt, atmet. Hier erscheint es überhaupt nicht abwegig, dass dieses buschige Wesen auf der Bühne selbstbewusster Teil eines autonomen Pflanzenstaats, des titelgebenden „estado vegetal“, sein könnte. Nach der Aufführung bleibt die Frage, ob die Pflanzen auf der Bühne echt sind oder aus Plastik. Denn wenn sie echt sind, dann hätten Sie es bereits geschafft, einen Theaterzuschauer für sich einzunehmen. Und von da ist es nicht mehr weit zur Weltherrschaft.
Estado Vegetal
Konzept, Text, Dramaturgie, Realisierung, Sound Design Manuela Infante
Text, Dramaturgie, Spiel Marcela Salinas
Design Rocío Hernández
Produktion Carmina Infante
Requisiten-Design Ignacia Pizarro
Stimmaufnahme Pol del Sur
Übersetzung Bruce Gibbons, Alex Ripp & British Council Chile
Technische Assistenz, Übertitel Alex Waghorn
Technische Leitung, Licht Rocío Hernández