John Gabriel Borkman (4): Vinge ist Visconti

John Gabriel Borkman“, inszeniert von Vegard Vinge und seinen Lieben, dürfte die wohl meist diskutierte Nominierung des diesjährigen Theatertreffens sein.
Selbst eher theaterferne Menschen wissen bereits, was sie in diesem Stück erwartet: der Regisseur pinkelt sich in den Mund, scheißt Farbe auf Bilder, bedroht das Publikum. Das stimmt auch alles, aber das ist nicht das, was diese Inszenierung eigentlich auszeichnet: Sie ist ein Gesamtkunstwerk voller Emotionen, Energie, Poesie und Musik.
Zu Beginn der gestrigen Vorstellung verkündete Vegard Vinge (unter anderem): „Ich bin Visconti!“, während er zur Musik von „Tod in Venedig“ seinen mit einem Gesicht bemalten Penis in die Kamera hielt. Klingt pubertär, war aber tatsächlich ein sehr poetisch-melancholischer Moment. Solche eher stillen Momente wechselten in den folgenden fast 12 Stunden mit Momenten zermürbender Langeweile oder Wiederholungen, aber auch mit unglaublich energievollen Ausbrüchen. Der Rhythmus dieser Wechsel wirkt sehr musikalisch, und Vinge sprach an einer Stelle von einer „Partitur“, was ich für eine sehr treffende Bezeichnung halte.
Musikalität zieht sich durch die gesamten 12 Stunden. Die musikalische Bandbreite reicht von skurrilen eigenen Liedern über Opernmusik bis zu Dance. Aber auch der Umgang mit Sprache ist höchst musikalisch: das endlose Zählen des Advokaten Hinkel (heute kam er bis 600), die Wiederholungsschleife der Wehklagen der Mutter, oder die kindlich-schaurig verzerrte Stimme von Vinge selbst, der mit Regieanweisungen und größtenteils improvisierten Monologen bzw. Beschimpfungen durch den Abend leitet wie ein sadistischer Conférencier.
Die Inszenierung wirkt apokalyptisch und beinahe surreal, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass sämtliche Darsteller bis hin zu den Technikern Masken tragen – und sich in einem überwältigenden Bühnenbild bewegen. Ida Müller hat den gesamten Prater in ein Geisterbahn-ähnliches Szenario aus Pappe verwandelt.
Masken, Bühnenbild, Requisiten, die Spielart der Schauspieler: alles suggeriert offensive Künstlichkeit, zum Beispiel, wenn das Kind aus einer zweidimensionalen Pappattrappe Cola trinkt. Diese Künstlichkeit steht im krassen Kontrast zu den vermeintlichen Schockmomenten der Inszenierung: Gewalt, Fäkalien, Nacktheit. Aber gerade diese „Schockmomente“ verdeutlichen, dass hier tatsächlich etwas physisch-reales passiert. Wenn Vinge sich in den Mund pinkelt oder anal Farbe einführt oder mit bloßen Händen das Bühnenbild zerlegt, spürt jeder Zuschauer, dass hier jemand steht, der nicht nur spielen will, sondern der nichts und niemanden schont, schon gar nicht sich selbst. Bei der heutigen Vorstellung hat sich Vinge beim Zerschlagen einer Wand auch eine Hand verletzt, so dass er in den letzten paar Stunden kaum bzw. gar nicht mehr präsent war.
Der Abend endete daher bereits um 3:30 Uhr. Früh für Vinge, sehr spät für die meisten Zuschauer. Hier ein paar getwitterte Bemerkungen aus der Nacht:
tt_blog12: Selten jemanden so poetisch seinen Penis in die Kamera halten gesehen #borkman #tt12
tt_blog12: Danse macabre: Vinge lässt die Toten tanzen
tt_blog12: Vinge sucht Sammler für beschissene Bilder
Nachrichtvonmir: Borkman seit Stunde 8 nur Variationen auf das bekannte Thema. Ich gebe mich geschlagen. Gute Nacht!
tt_blog12: Vinge hatte versprochen: Heute gibt es keine verletzten Zuschauer. Alle um mich rum wirken aber sehr zerstört
tt_blog12: Niemand verletzt – außer Vinge. Früher Feierabend

Wein, Mate, Kaffee: Survival-Kit. Foto: Adrian Anton

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Adrian Anton, 1978 in Bad Hersfeld geboren, lebt und arbeitet in Hamburg als „freier" Kulturwissenschaftler. In der Praxis bedeutet das vor allem Individualisierung, Flexibilität und Mobilität im (Bildungs-)Prekariat als Ergebnis eines Studiums mit Magister-Abschluss in Volkskunde/Kulturanthropologie, Anglistik und Museumsmanagement. Seine Berufserfahrungen reichen von Bestattungen über PR und Tagungsorganisation bis zu Museumspädagogik. Derzeit forscht und schreibt er unter anderem zum „armen Tod". Bei all dem „work in transit" bilden Theaterbegeisterung und der Wille zu schreiben Konstanten, etwa das seit 2009 aktive Blog „FLÜSTERN + SCHREIE".

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