Bedienungsanleitung für Kirchengänger

Mit Christoph Schlingensiefs Krebs-Oratorium „Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ ist dem Publikum gleich zu Anfang des diesjährigen Theatertreffens eine echte Aufgabe gestellt: „Irritiert“, „fassungslos“, „verstört“ verließen die Rezensenten die Premiere bei der Ruhrtriennale im vergangenen Jahr.

Generalprobe zur Kirche der Angst von Christoph Schlingensief. Fotos: Jan Zappner

Reguläre Karten für die 260 Plätze pro Vorstellung gibt es natürlich nicht mehr. Christoph Schlingensiefs „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ ist eines der begehrtesten Stücke beim Theatertreffen – und eines mit den wenigsten Plätzen. Um doch noch ein paar Menschen reinzuquetschen, wurden auch für die Generalprobe Karten ausgegeben. Und auch wir vom tt-Blog durften dabei sein. Auf der Bühne neben Christoph Schlingensief himself auch eine Masse an Schauspielern, Sängern, Chören und Statisten mit merkwürdigen Kleidern und Frisuren. Fotos: Jan Zappner

Die theaterkritischen Zugriffe schienen durch die biographische und religiöse Intensität von Schlingensiefs „Kirche“ außer Kraft gesetzt: „Schlingensief macht sich unangreifbar, weil der (kranke) Mensch Schlingensief inszeniert ist“, befand Dirk Pilz in der Berliner Zeitung. „Da will einer was wissen von Gott, und er geht den direkten Weg, bedient sich der Rituale, die in der Amtskirche oft so abgespielt wirken“: Rüdiger Schaper verstand die Inszenierung im Tagesspiegel gar als religiöses Meisterwerk.

Mit entsprechend großer Spannung wird das Stück nun beim Theatertreffen erwartet. Aus der Blog-Redaktion werden, nach überstandener Generalprobe, hier die FAQ (frequently asked questions) des verunsicherten Premierenpublikums beantwortet:

1. Auf was lasse ich mich da überhaupt ein?

In aller Kürze: Der an Lungenkrebs erkrankte Theaterregisseur Christoph Schlingensief hat ein Stück über das eigene Leiden inszeniert, in der Form eines „Fluxus-Oratoriums“. Das Bühnenbild ist dabei stark von der katholischen Kirche seiner eigenen Kindheit, der Herz-Jesu-Kirche in Oberhausen, geprägt, der Ablauf zitiert immer wieder den katholischen Ritus, wobei aber der kranke Mensch (Schlingensief) an die Stelle des gekreuzigten Jesus tritt, und Verzweiflung an die Stelle der christlichen Offenbarung. „Das sieht nicht guuut aus“, rezitiert Margit Carstensen im Stile des liturgischen Singens, gelesen wird aus dem fünften Evangelium nach Joseph Beuys („Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt. Wer seine Wunde verbirgt, wird nicht geheilt.“), dessen Hase neben Kruzifix und Kelch auf dem Altar Platz findet. Es ertönen ergreifende Tonmitschnitte aus Schlingensiefs Zeit im Krankenhaus, während auf Leinwände Super-8-Filme des Kindes Schlingensief projiziert werden. Ein dröhnender Gospelchor, eine zwergwüchsige Päpstin, ein behinderter Priester und einige Skurrilitäten mehr runden das Bild ab.

2. Kann ich da gefahrlos hingehen?

Wenn uns die Generalprobe eins gezeigt hat, dann das: Ja! Denn das hier ist kein Voodoo, kein voyeuristisches Gruppenereignis und schon gar nicht der Gottesdienst, der nach Lektüre der Rezensionen zu befürchten stand. Die „Kirche der Angst“, wie wir sie erlebt haben, war (leider? zum Glück?) in erster Linie „bloß“ Theater; ein Aspekt, den auch Schlingensief noch stärker in den Mittelpunkt rücken will: „Herzlich willkommen zum Theatertreffen! Nichts ist echt, alles bleibt Spiel“, möchte er vor der Premiere der „Kirche der Angst“ sagen.

3. Muss ich mich vor der Selbstdarstellung des schwerkranken Christoph Schlingensief fürchten?

Schlingensief selbst war es, der bei der Generalprobe für optimistische, beinahe gelöste Stimmung sorgte, indem er – vor Aufführungsbeginn – mit augenzwinkerndem Stolz von einer Fahrradfahrt quer durch Berlin berichtete. Die hätte er nach eigener Aussage in „gesunden“ Tagen nicht, jetzt aber sehr wohl geschafft. „Ein Applaus für mich“, forderte einer, dem es fern zu liegen scheint, das Theatertreffen-Publikum mit der eigenen Krankheit vor den Kopf zu stoßen. Vielmehr war das, was bei der Generalprobe passierte, schlicht und einfach sehr einsehbar: Ein Mensch erkrankt lebensbedrohlich und hadert daraufhin mit dem Schicksal. Er entscheidet sich, dies öffentlich zu tun, theatral und dabei sehr lebendig. Das muss man schon aushalten können.

4. Muss das denn sein – dass sich da einer derart selbst zum Thema macht?

„Ich gieße eine soziale Plastik aus meiner Krankheit“, so begründete Schlingensief mit Joseph Beuys das, was mit viel bösem Willen als hemmungslos wehleidiger Narzissmus in die Reihe von öffentlichen Todesinszenierungen à la Jade Goody gestellt werden könnte. Das öffentliche Leiden Schlingensiefs kann man, wenn man diese Verallgemeinerung akzeptiert (und nur sie macht das Stück so berührend), zwar ablehnen. Fakt ist, dass es berührt, sogar erschüttert, ohne dabei (zumindest in der Berliner Generalprobe) jenseits des Theatralen „übergriffig“ zu werden.

5. Wird die Inszenierung mit ihren vielen Zitaten aus dem katholischen Ritus meine religiösen Gefühle verletzen?

Diese Frage ist so pauschal natürlich nicht zu beantworten, doch regelmäßige Kirchgänger können die „Kirche der Angst“ trotz Monstranz mit eingefasster Lunge, umhersegelnden Oblaten und der zwergwüchsigen Päpstin getrost betreten: Das, was bisher in Berlin zu sehen war, ist – zumindest mit Blick auf die Analogien zum christlichen Gottesdienst – viel weniger kirchlich als nach den Rezensionen einer „Messe“ des letzten Jahres zu befürchten stand: Nicht nur, dass im überbordenden Fluxusspektakel liturgische Elemente nur rudimentär und – wie etwa beim „vorgezogenen Sanctus“ – auch deutlich verfremdet vorkommen. Auch ist die Interaktion eines Gottesdienstes völlig ausgeblendet – Liedblätter für das Auditorium und im Wechsel gelesene Psalmen wären immerhin möglich gewesen, kommen aber nicht vor. Weil es daher keine Gemeinde gibt (nur ein Publikum), kann man auch nicht wählen, ob man sich dieser zugehörig fühlt „oder das Ganze lieber doch als rein ästhetisches Phänomen wahrnehmen wollte“, wie Eva Behrendt im vergangenen Jahr befand. Das Ereignis bleibt – Stichwort „Nichts ist echt, alles bleibt Spiel“ – tatsächlich rein ästhetisch.

5.1 Wird sie mich verletzlich machen?

Ja, denn das alles ändert natürlich nichts daran, dass hier schon manchmal der Eindruck entsteht, das Leiden selbst trete vor das Publikum, gerade, wenn in Schlingensiefs nachgebauter Kindheitskirche Ton- und Videodokumente seiner Krankheit vorgeführt werden, in denen er weint und bettelt. Schlingensief berührt stark, indem er mit vollem Körpereinsatz am Mythos der Lebenden rüttelt, dass sie gesund seien: Wer die „Kirche der Angst“ verlässt, betrachtet nicht nur den eigenen Körper mit neuem Misstrauen.

6. Sind die Kritiker, die im vergangenen Jahr das religiöse, unausweichliche Element der „Kirche der Angst“ betont haben, allesamt unfähig?

Nein, sind sie nicht. Aber Aufführungs- und Rezeptionssituation haben sich seit September 2008 gewandelt, nicht zuletzt durch die Kritiken selbst. Schlingensiefs Krankheit ist, auch durch die Veröffentlichung seines „Tagebuchs einer Krebserkrankung“ in diesem Monat, ein öffentliches Thema geworden und damit viel greifbarer als noch vor einem halben Jahr. Zeitgleich schöpft der Kranke, wie in den vergangenen Tagen an vielen Stellen des Theatertreffens zu hören und zu sehen war, neuen Mut. Vom Fachpublikum wird die „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ zudem viel stärker im Kontext eines von Schlingensief selbst benannten Triptychons zusammen mit ihrem Vorgänger, dem intimen „Zwischenstand der Dinge“ aus dem Gorki-Studio, vor allem aber mit der nachfolgenden Ready-Made-Oper „Mea Culpa“ rezipiert, der Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau gar eine „heitere“ Haltung attestierte. Vor diesem Hintergrund steht zu vermuten, dass die Version der „Kirche der Angst“, die nun auf der unprätentiösen Nebenbühne des Berliner Festspielhauses gegeben wird, viel weniger angsteinflößend sein wird als ihre Vorgängerin in der pathetischen Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord.

7. Wie komme ich noch an Karten für eine der Aufführungen?

Restkarten, wenn es denn welche geben sollte, werden seit dem 29. April an der Kasse im Haus der Berliner Festspiele verkauft. Der Onlineverkauf für die Veranstaltungen des Theatertreffens findet sich hier.

–––

Johannes Schneider

Alle Artikel