Krise der Kritik? Eine neue Version ist verfügbar

„Sie können bestimmte moderne Inszenierungen gar nicht mehr beurteilen, wenn Sie nicht häufig ins Kino gehen, häufig Fernsehen gucken und sich mit dem Internet ein bisschen auskennen.“ So beschreibt der Theaterkritiker Matthias Heine die Vorraussetzungen für seinen Beruf. Das Zitat stammt aus Vasco Boenischs 2008 erschienener Studie „Krise der Kritik? Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten.“ So anregend die Lektüre ist, so eklatant deren Leerstelle: das Internet kommt bei Boenisch praktisch nicht vor.

Reicht es für einen Theaterkritiker, sich „ein bisschen mit dem Internet auszukennen?“ Wäre es nicht Zeit für ein Update seines Gegenstands? Fordern die gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche nicht andere Formen der Kritik? Ich glaube ja und zwar aus zweierlei Gründen: Zum einen hat die Theaterkritik ein Relevanzproblem. Die alte Leserschaft stirbt im wahrsten Sinn des Wortes aus, für viele Angehörige der folgenden Generationen spielt Kritik keine Rolle, wenigstens nicht jene im Zeitungsfeuilleton. Zumal dieses Zeitungsfeuilleton im Besonderen und die Kulturkritik im Allgemeinen immer weniger Geld für diejenigen abwirft, die sie füttern. Zum anderen beeinflusst dieses Internet unsere Wahrnehmungsstrukturen und Kommunikationsformen. Steht Information bei einer Kritik wirklich noch an erster Stelle, wenn Information ein allseits verfügbares, ja inflationäres Gut ist? Wer wissen möchte, worum es im „König Lear“ geht oder was der Regisseur Stefan Pucher zuletzt inszenierte, braucht bloß zu googeln. Wer einen Eindruck der Inszenierungsästhetik vom neuen Pollesch-Stück bekommen möchte, sieht sich den Trailer auf der Website der Volksbühne an. Wer die Aufführung als ganzes sehen möchte, muss sie (noch) besuchen. Selbst das wird sich möglicherweise ändern, wenn man die Idee der Theaterwissenschaftlerin Tina Lorenz weiterspinnt, die den Theatern vorschlägt, ihre Aufführungen als Stream zur Verfügung zu stellen. Eine rein beschreibende Kritik ist spätestens dann überflüssig.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich glaube nicht, dass die Theaterkritik verschwinden wird. Die klassische Printkritik (zumindest vorerst) ebenso wenig wie die fundierte Expertise im Netz. Aber sie wird sich ändern. Vielleicht muss sie es sogar, wenn sie nicht sterben will.

Verschiedene Versionen stehen zum Update bereit. Erstens: Die Kritik nimmt eine eitlere und gleichzeitig bescheidenere Haltung ein. Während im US-amerikanischen Journalismus das Schreiben in der ersten Person nichts Ungewöhnliches ist, gilt hierzulande das Diktat der sogenannten Bescheidenheit. Statt des fehlbaren Subjekts, spricht die Stimme der Allwissenheit, in der Literatur spricht man vom auktorialen Erzähler. Für den Nachrichten-Journalismus mag das ja gelten, aber verlangt ein derart individuell-affektvoller Gegenstand wie das Theater nicht die Kenntlichmachung der eigenen Sicht? Denn der Kritiker ist so fehlbar wie sein Leser. Das soll keinesfalls heißen, dass ersterer das Feld räumen soll. Zugegeben braucht es die Expertise in der Informationsflut dringender denn je. Aber ein Schreiben in der ersten Person ist nicht gleich Selbstbespiegelung. Im Gegenteil: Die Betonung des subjektiven Aspekts impliziert mehr Bescheidenheit – Bescheidenheit das eigene, fehlbare Urteil betreffend.

Das zweite Update betrifft die Form. Größtenteils unterscheidet sich das professionelle Schreiben im Netz bislang nur unwesentlich vom Printfeuilleton. Zwar widerlegt dies alle Internet-Skeptiker, die den Medienwechsel mit Qualitätsverlust gleichsetzen, aber es ist schade um die ungenutzten Möglichkeiten. Warum nicht „ungeschützter, offener, dialogischer, experimenteller“ schreiben, wie es der Kulturjournalist Tobi Müller fordert? Von Seiten der Printfeuilletons ist Müller zufolge in dieser Hinsicht nichts zu erwarten. Warum nicht das Internet als Spielwiese nutzen? Nicht zwangsläufig bedeutet geht das mit einer intellektuellen Verknappung einher. Ich wehre mich entschieden gegen den Vorwurf, für die kurze Aufmerksamkeitsspanne meiner Generation müsse alles häppchenweise aufbereitet werden. Wahr ist jedoch, dass das Netz unsere Rezeptionsgewohnheiten grundlegend ändert. Warum nicht diesen Änderungen Rechnung tragen in Form pointierter, Blog-ähnlicher Formate wie den Shorties auf Nachtkritik als Ergänzung zu den bereits ausführlich besprochenen Inszenierungen, die sowieso online sind? Warum keine Erlebnisberichte, wie sie sich für experimentelle Theaterformen anbieten, etwa den 24-stündigen Performancemarathon „Unendlicher Spaß“  oder Vegard Vinges „12-Sparten-Haus“? Oder die Erweiterung des reinen Text hin zu anderen Formaten, wie es der diesjährige Theatertreffen Blog vormacht? Warum nicht „Sehen mit dem Smartphone in der Hand“, statt nur mit dem Stift?  An das Potential von Twitter im Theater glaubt nicht nur die Nachtkritik-Chefredakteurin Anne Peter. Auch ich fasse seit einiger Zeit nach jedem Theaterbesuch meinen Eindruck in einem Tweet zusammen. Nicht selten feile ich den ganzen Abend hindurch an diesen 140 Zeichen. Ich will nicht behaupten, dass dies eine mehrere tausend Zeichen lange Kritik ersetzt – aber etwas anderes, etwas neues entsteht.

Die dritte Version betrifft das Verhältnis zu den Lesern. Früher waren diese dem SZ-Kritiker Till Briegleb zufolge „die anonyme Masse.“ Heute beteiligt sich diese Masse am Diskurs. Wenn der Leser frei nach Roland Barthes vom Autor zum User und schließlich zum Kurator seiner digitalen Identität wird, wird er sein Recht auf Teilhabe auch im Bereich der Theaterkritik einfordern. Dies geschieht bereits in den Kommentarspalten auf Nachtkritik. Die Meinung des Autors einer Nachtkritik zählt nicht per se mehr als die seiner Leser, zumindest ist sie permanent auf dem Prüfstand. Manchmal ist das lästig, manchmal ärgerlich, vermeiden lässt es sich nicht. Wenn Wissen allumfassend, ortsungebunden und dual strukturiert ist (jeder trägt dazu bei und jeder kann es abrufen), dann lösen sich Allmachtsansprüche auf.

Wir alle, die wir Theater lieben und die Theaterkritik als den dazugehörigen notwendigen Diskurs, sollten uns fragen, ob diese im Stillstand verharren kann, wenn um sie herum der Sturm losbricht. Nicht, weil „die alte Zeit nicht wiederkommt“ (Dirk von Gehlen, von dem ich mir den Titel dieses Essays geborgt habe, über die dereinst paradiesischen Zustände der Kulturkritik), sondern weil eine neue Zeit angebrochen ist, eine, in der viel passiert und alles passiert gleichzeitig. Manchmal ist das anstrengend. Aber dieses Internet ist nun mal da und geht nicht mehr weg. Und manchmal verdanken wir ihm ja auch ganz wunderbare Ereignisse. Dann sitzen wir im Theater, feilen an Tweets, sehen anders, betrachten im Kollektiv, schreiben anschließend die Kritik, verlinken zu Wikipedia und Youtube, werden von einem Kommentator um Erklärung gebeten, sortieren unsere Gedanken neu, stolpern über Referenzen, sprechen mit Freunden darüber, zeichnen das Gespräch auf, stellen es ins Netz, twittern den Link, werden retweetet, berichtigt, bestätigt, widerlegt und immer fort und staunen über das Wahnsinnsfeuerwerk, vom Theater und diesem Internet in unseren Köpfen gezündet. Vielleicht kann eine neue Version der Theaterkritik dessen Zündschnur sein.

Eva Biringer bloggte 2013 über das Theatertreffen und schenkt uns in diesem Jahr einen Gastbeitrag. 

Die Berliner Zeitung ist Partner des Theatertreffen-Blogs.

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Eva Biringer, geboren 1989 in Albstadt-Ebingen, studierte Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft in Berlin und Wien. Nach Hospitanzen bei der Zeit, dem Standard und der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung lebt sie in Berlin und schreibt unter anderem für Nachtkritik.

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