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Die Zeit, in der wir leben und das Theater, das sie provoziert, fordert Künstler wie Zuschauer in hohem Maße. Welche Spielart ist unserer Zeit angemessen?
Seit ich vor ungefähr 20 Jahren mit dem Theater begonnen habe, dreht es sich um mich. Genauer gesagt, dreht es sich um meine Sicht auf die Welt. So egozentrisch ist das. Zugleich habe ich wenig Vertrauen in die Wichtigkeit meiner unspektakulären Biografie für den Zuschauer. Also nutze ich Figuren und Geschichten, um dem Zuschauer mein Anliegen zu vermitteln. Diese Figuren und Geschichten funktionieren wie ein Treffpunkt für mich und den Zuschauer. Jeder von uns hat eine gewisse Strecke dorthin zurückzulegen. Auf dieser Strecke, in der Überwindung dieses Abstands, in der Annäherung findet das eigentliche Spiel statt. Und im Spiel liegt mein kleiner Anteil an der Autorenschaft. So verstehe ich bis heute den Vorgang des Theaters.
Ich empfinde große Bewunderung für Schauspieler*innen, die sich und ihre Weltsicht direkt in den Produktionsprozess einfließen lassen. Zum Beispiel die Kollegen, die mit René Pollesch arbeiten. Sie stehen nicht als Privatperson auf der Bühne. Doch was sie sagen, ist angereichert und beglaubigt von ihrer Persönlichkeit. Sie sind Co-Autoren. Ich begeistere mich für Performance und ein Theater der Teilhabe.
Stutzig wurde ich vor circa 13 Jahren, als ich eine Vorstellung von Rimini Protokoll sah. Sie drehte sich um den Tod. Die Gruppe hatte mehrere „Experten des Alltags” eingeladen, von ihren Erfahrungen damit zu berichten. Die Vorstellung hat mich als Zuschauerin begeistert, weil sie mir Einblicke gewährt hat, die ich sonst nicht bekommen hätte. Gleichzeitig war ich als Schauspielerin irritiert: wenn ein Bestatter, inszenatorisch eingebettet, jedoch nicht spielend, so präzise Auskunft geben konnte über den Tod – war es dann nicht hochgradig anmaßend, spielerisch darüber zu spekulieren? Wenn ich echte Menschen im Theater sehe, fühle ich mich als Schauspielerin insgeheim gefährdet und minderwertig.
Wenn ich echte Menschen seh’…
Mir werden Rollen anvertraut, die geschrieben wurden, lange bevor ich ins Spiel kam. Das hat mich nie gestört. Ich genieße das Spiel sogar umso mehr, je weiter die Figuren von mir entfernt sind. Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen! Oft zeigen sich mir die Figuren auf fortgeschrittenem Weg näher, als ich zuerst angenommen habe. Im Laufe der Jahre entwickelte ich eine gewisse Kunstfertigkeit. Sie besteht darin, in jedem Moment als Person anwesend zu sein und spielerisch Haltung zum Gegenstand zu beziehen, die über meine Person hinausweist. Je länger ich Figuren spiele, desto größer wird die Lust daran. Desto schwächer wird zugleich mein Vertrauen in das erzählenswerte Eigene.
Menschen zuzusehen, die direkt von sich erzählen, finde ich in der Regel aufregender, auf jeden Fall überraschender, als Kollegen, die sich an der x-ten Inszenierung eines Klassikers reiben. Ich sehe ja und weiß nur zu gut, welches Feuer das entfachen kann und wie viel Spaß diese Arbeit macht. Immer wieder spannend ist auch der Vergleich verschiedener Les- und Spielarten desselben Stoffes. Trotzdem frage ich mich immer häufiger, warum wir den klassischen Kanon der Dramen, Literatur und Filme als Vorlagen bemühen. Ich muss nicht in meiner Reclam-Bibliothek kramen, um den Stoff zu finden, der heute Relevanz hat. Ich muss nur die Zeitung lesen, die Nachrichten sehen – ach, es reicht, die Augen zu öffnen. Dann sehe ich, dass ich umgeben bin von Menschen, die Dinge erlebt haben, die außerhalb meiner Vorstellungskraft liegen. Ich sehe, dass wir Menschen, die ein Leben aufgeben, um leben zu können, nicht bei uns aufnehmen. Dass wir uns zur Diskussion zurückziehen, während sie vor unseren Augen sterben. Ich sehe Menschen, die in zweiter oder dritter Generation mit uns leben – und wir sind immer noch zu geizig oder zu träge, ihnen die gleichen Möglichkeiten zuzugestehen wie uns selbst. Diese Zeit braucht klare Worte und handelnde Menschen. Ist es auch im Theater sinnvoller, direkt und mit unseren Worten auf diese Zeit zu reagieren?
Verschiedene Welten
In Yael Ronens „Common Ground“ berichten Kollegen in meinem Alter und jünger von ihren Prägungen der letzten zwanzig Jahre. Es ist mitteleuropäische Geschichte, für mich wiedererkennbar – und doch vollkommen anders. Uns trennen 1000 km (die präferierte Distanz einer Urlaubsreise) und ein Krieg. Dies ist wohl die direkteste und zugleich unterhaltsamste Art, mich mit einer Wirklichkeit zu konfrontieren, die sich vor meinen Augen abgespielt hat und die ich doch nie wirklich gesehen habe.
In dieser Inszenierung übernimmt der Schauspieler Niels Bormann eine wichtige vermittelnde Funktion. Ich beneide ihn. Er hatte das Privileg, mit den Kollegen aus Ex-Jugoslawien auf diese Reise zu gehen. Eine ganz reale Reise, in der er, wie man so schön sagt, „Land und Leute” tatsächlich kennenlernen durfte. Durch diesen szenischen Reisebericht habe ich viele Dinge erfahren, die ich nicht zu fragen gewagt hätte, aus Scheu davor, allzu dumme Fragen zu stellen. Niels, mit demselben sicheren Wohlstandshintergrund wie die meisten im Parkett, ist da eine große Hilfe. Während seine Mitspieler von dem Verlust ihrer Eltern, Identitätskrisen, Vergewaltigungen, Kriegsausbruch und Flucht berichten, kann er nicht viel mehr tun, als interessiert, manchmal verständnislos und unsensibel nachzufragen. Schon in seinen Fragen wird oft eine unüberbrückbare Kluft deutlich. Aber immerhin, er fragt, für uns. Das ist doch schon ziemlich viel, wenn ich mich so umsehe.
Ich verlasse das Theater belehrt und berührt. Hach! Ich wäre auch gern so eine Fragende. Die Maischberger der deutschen Bühne! Mehr kann ich nicht sein wollen. Oder?
… Und dann rappelt’s in der Kiste. Nein! Ich habe das Theater doch studiert! Ich will nicht nur die Frau mit dem Mikro sein, die anderen Fragen stellt, der dumme August der Ausbeuterklasse.
Ich stammele Niels an: Niels, ich habe so gruselige pegidistische Züge in mir! Zwar bin ich begeistert von eurer Produktion. Gleichzeitig fühle ich mich latent bedroht. Wenn das mit dem Dokutheater so weitergeht – was kann ich denn noch dabei tun? Ich habe ja nichts zu erzählen. Mir ist es immer gut gegangen. Ich war nie bedroht und musste keine Entbehrungen leiden. Wenn ich die aufklärerische Funktion des Theaters relevant und nötig finde und einen Platz darin einnehmen möchte – dieses Theater braucht mich ja eigentlich gar nicht –, kann ich mich nur darum bewerben, denjenigen Fragen zu stellen, die etwas zu berichten haben, das uns in unserer Wahrnehmung noch fehlt… Moment… Das ist doch aber genau das, was ich im klassischen Rollenspiel auch tue! Ich bin Schauspielerin geworden, um mir spielend einen Weg zu bahnen zu Dingen, die meinen Erfahrungshorizont übersteigen. Aber klassisches Schauspiel, in dem ich sowohl Fragende als auch Trägerin möglicher Antworten bin, scheint hier regelrecht unpassend… War das nicht mal die Grundverabredung? Schauspieler erspielen sich alles? Lasst mich den N**** auch noch spielen! Warum werde ich plötzlich neben Menschen positioniert, die in einer ganz anderen Währung zahlen als ich? Warum gilt ihre Darstellung als authentisch und meine nicht? Wird mein Begriff vom Schauspiel (nämlich, dass es eine zwar spielerische, doch wahrhaftige Auseinandersetzungen sei) nun in die Ecke der Behauptung, der Lüge gedrängt?
Ich spüre einen heimlichen, total verqueren Sozialneid auf diejenigen, die Wunden vorzuweisen haben. Das ist pervers. Ich sollte froh sein, dass meine Verletzungen sich in einem heilbaren Rahmen bewegen. Stattdessen habe ich Angst, dass die verwundete Biografie wertvoller ist als meine. Ich schäme mich, weil ich keine Wunden habe, die gesellschaftlich relevant sein könnten. Dieses Gefühl lähmt mich auf eine Weise, die vielleicht der wütenden Scham des Aleksandar Radencović entfernt verwandt ist, der sein sicheres Leben in Deutschland nicht genießen kann, weil er es stets vor dem dunklen Hintergrund seiner im Krieg sterbenden Familie strahlen sieht.
Echt?!
Insgeheim bin ich auch ärgerlich. Mir wurde nämlich in „Common Ground“ suggeriert, dass hier jeder seine Geschichte erzählt. Beim Zusehen denke ich mir, dass da sicherlich auch einiges frisiert wurde zu Gunsten der Dramaturgie. Ist ja immer noch Theater. Niels bestätigt das mit einem milden Lächeln. Später höre ich an anderer Stelle: Teilweise haben die Akteure ihre Geschichten getauscht. Aha. Klar. Auch Biografien können Material sein. Trotzdem fühle ich mich getäuscht: Im Programmheft ist davon nicht die Rede, dieser Vorgang wird nicht transparent gemacht! …Wird er aber doch in anderen Produktionen auch nicht! Die Findung geht niemanden etwas an. Entscheidend ist, was am Ende gezeigt wird!
Ich aber sitze im Publikum und habe eine klassische Beißhemmung, während die Kollegen Kehle zeigen. Ja, ich kann auf diese Vorstellung nicht anders reagieren als mit betroffenem Respekt. Keiner verlangt diese Reaktion von mir. Vielleicht markiert genau diese Betroffenheit den weiten Weg, den zumindest ich noch vor mir habe bis zur vorbehaltlosen Integration sowohl alternativer Theaterformen als auch der Kollegen mit mir fremdem Hintergrund? Doch noch fühle ich mich manipuliert und entzieht sich in meiner Wahrnehmung diese Produktionsweise der Kritik. Sie konzentriert sich so sehr auf den biografischen, geschichtlichen und politischen Inhalt, dass es sich kleinkrämerisch anfühlt, die Form zu debattieren. Zum Beispiel, dass auf der Bühne nicht miteinander geredet wird, sondern über die Dinge. Und das direkt ins Publikum: alles muss raus! Die Texte, das Bühnenbild, die Videocollagen, die bildlichen Arrangements der Gruppe – ein Baukastenprinzip, stets ostentativ berichtend, nicht mehr tastend.
Darum bin ich verwirrt, wenn eine der Schauspielerinnen ihre Geschichte (oder die ihrer Kollegin?) mit einer Rührseligkeit vorträgt, die – ja, ehrlich gesagt, nicht besonders gut gespielt ist – wie kann das sein, wenn mir doch suggeriert wird, das hier sei gar nicht gespielt, sondern echt? Dieses Sentiment würde mich übrigens bei der Gestaltung jeder x-beliebigen Rolle stören, aber bei weitem nicht so irritieren; hier kann ich es nicht zugestehen und finde es merkwürdig anstößig.
Ich spüre ärgerliche Unruhe, weil ich mit meiner Verwirrung nicht umgehen kann und darum pedantisch Klarheit fordere, was nicht eben für meine eigene Integrationsfähigkeit spricht.
Fragen
Reduziere ich die Kollegen aufgrund dieser einen Inszenierung auf ihre Geschichte? Warum werden in Stemanns Inszenierung der „Schutzbefohlenen“ in Lumpen vermummte Refugees von in Lumpen vermummten Refugees dargestellt, während ausgezeichnete Schauspieler im Abendkleid damit hadern, „sie spielen zu müssen“? Warum spielt mein wunderbarer estnischer Kollege Risto Kübar, der mit der größten Präzision große Mengen Text in einer ihm vollkommen fremden Sprache lernt, immerfort den Fremden? Warum wird er nie in die Maske gebeten, während wir Kollegen unser Aussehen stundenlang manipulieren? Missbrauchen wir die Fremden unter uns als Readymades des Theaters? Ist das alles, wozu wir derzeit das Herz haben – die Fremden als Fremde auszustellen? Machen wir sie damit nicht zu Trophäen unseres guten Willens? Warum, wenn wir an einer wirksamen Integration interessiert sind, werden die Karten in überall bunten Ensembles nicht gründlich gemischt? Müssen wir im Theater erst Sozialarbeit leisten, bevor wir zusammen Theater machen können? Wem soll die helfen? Uns? Dem Publikum? Ist der Vorgang, gemeinsam Theater zu machen, nicht schon der Inbegriff des Sozialen? Muss das noch markiert werden? Kann es nicht einfach stattfinden?
Ist das alles eine Übergangsphase?
Kommt noch die Zeit, in der wir tatsächlich miteinander leben und sich die Abgrenzungen, die sich hier in der Produktionsweise niederschlagen, aufheben? Wann kann Shermin Langhoff ihre Migrations-Bastion öffnen, weil sie nicht mehr nötig ist? Wie können wir die Grenzen in unseren Köpfen einreißen? Können wir das erst, wenn wir die Grenzen Meter für Meter abgeschritten haben? An wie vielen internationalen Koproduktionen werde ich noch teilnehmen, bis die Verständigungsschwierigkeiten zwischen verschiedenen Kulturen sich anfühlen wie alle anderen produktionsbezogenen Schwierigkeiten auch? Ist das das Ziel: Gleichmachung? Oder kultivieren und feiern wir im idealen Fall miteinander den Unterschied?
Gemeinsames Terrain
Samuel Finzi soll bei der Verleihung des Gertrud-Eysoldt-Ringes gesagt haben, nachdem er einen Preis als „Schauspieler mit Migrationshintergrund“ bekommen habe, sei dies nun ein Preis für einen Schauspieler mit Hintergrund. Er würde sich sehr freuen, den nächsten mit Grund zu bekommen.
Marina Abramović hat sich nach Jahrzehnten der Performance dem ihr suspekten Theater zugewendet, um kreative Distanz zu ihrer eigenen Person zu gewinnen. Sie hat ihre serbokroatische Biografie verschiedenen Regisseuren anvertraut. Die ästhetischen Ergebnisse fallen sehr unterschiedlich aus; dokumentarisch bleiben sie nicht. Diese Künstlerin hat hochsublime Kunst geschaffen mit ihrem eigenen Material.
Zu gern wäre ich Teil eines kollektiven Prozesses, der diesen Weg geht von der persönlichen Standortbestimmung zu einer künstlerisch komplexen Form.
Wir leben in einer Zeit, die dringende und komplizierte Fragen stellt. Viele Positionen müssen benannt und abgetastet werden. Die facettenreichen Spiegel der Spielarten, die dafür gefunden werden, sind vor allem bereichernd. Dokumentarisches Theater, politischer Diskurs auf der Bühne, Verwandlung oder getreues Nachspielen klassischer Vorlagen, Performance und Aktion; virtuoses und exzessives Schauspiel, bis zur oberflächlichen Unkenntlichkeit in Form eingebundene Spieler*innen, die Nutzung der eigenen Biographie – all diese Formen existieren spannungsvoll nebeneinander, wie auch das diesjährige Theatertreffen zeigt.
Offensive Konfrontation im Theater kann ein gesellschaftlicher Lackmustest sein und hilft im idealen Fall, die eigene Haltung auf Ängste, Vorurteile und Ressentiments abzuklopfen. So verweist das Theater auf das Politische im Privaten.
Erforschen wir die Unterschiede – auf der Suche nach gemeinsamem Terrain.
Das Titelbild zeigt Jochen Plogsties Interpretation von Rembrandts „Anatomie des Dr. Tulp“.