Um 14.30 Uhr beginnt die Abschlussdiskussion, in der die Theatertreffen-Jury über alle zum Festival eingeladenen „bemerkenswerten“ Inszenierungen diskutiert. Moderiert von Tobi Müller. Wir bloggen live.
14.27: Es raunt.
14.29: Festivalleiterin Yvonne Büdenhölzer begrüßt das Publikum. Selbst die „Aktivisten vom Blackfacing“ werden namentlich erwähnt.
14.30: Letzte Episode des TTtvs.
14.34: Die Jury betritt die Bühne. Tobi Müller findet im Hinblick auf das TTtv: „Die Zukunft der Kritik ist offenbar die Kurzkritik.“ Noch einmal werden die Jurymitglieder vorgestellt. 450 Inszenierungen wurden begutachtet (es werden immer mehr!). Anke Dürr freut sich über die Berlin-Tauglichkeit von „Die Straße. Die Stadt. Der Überfall.“ Franz Wille überrascht, dass es keine Zwischenfälle gab in diesem Jahr. Daniele Muscionico denkt nach über die Bedeutung der Auszeichnung von „Disabled Theater.“ In der Schweiz spreche man von „behinderten Menschen, man sei da weniger empfindlich. Muscionico: „Als ich das zum ersten Mal sah, dachte ich, das geht nicht.“ Raunen. Kein Nachhaken (warum geht das nicht?).
14.42: Was macht der Ortswechsel mit den Inszenierungen? Schade, dass nur so wenig Leute „Die Ratten“ sehen konnten, findet Vasco Boenisch. Die innere Anspannung des Jurymitglieds Christoph Leibold bei den veränderten Bedingungen in Berlin für „Die Straße. Die Stadt. Der Überfall“: Kann das gut gehen? Boenisch: „Ich glaube, Berlin hat es auch ganz gut gefallen, mal über München abzulästern.“
14.46: Wo sind die experimentellen Anteile beim diesjährigen TT? Ulrike Kahle-Steinweh bemerkt, man könne nur einladen, was da ist. Franz Wille: Ein schwaches Jahr für das performative Theater! „Ich hätte gerne ein paar andere Formate dabei gehabt, aber es besteht die Gefahr der ideologischen Brille.“ Christine Wahl: Es schleichen sich die Performanceelemente ins Stadttheater (etwa der Schauspieler Benny Claessens in „Die Stadt. Die Straße. Der Überfall.“)
14.54: Musik spielte große Rolle beim diesjährigen TT (Müller). Oder? Dürr: „Das war kein Kriterium. Darüber haben wir kaum diskutiert.“ Boenisch wirft ein: „Doch, darüber wurde diskutiert!“ Entlastet Musik die Schauspieler? Weil die Glaubwürdigkeit der großen Gesten auf der Bühne verloren gegangen ist? Nein (Dürr), ja, etwa bei Thalheimer (Boenisch). Selbst bei „Medea“ gibt es den von Musik unterlegten Clip am Ende und „ein Wummern.“ Wille warnt vor programmatischen Thesen: „Man nutzt die Möglichkeiten, die da sind. Vor zehn Jahren passierte dasselbe mit Video.“ Müller weist auf die leibliche Präsenz der Musiker hin, es handelt sich schließlich um Livemusik. „Theater besinnt sich auf seine Qualitäten, auf die erlebte Zeit, dazu gehört die aktuell hergestellte Bühnenmusik.“ Zustimmung im Publikum.
15.01: Dürr: „Fantastisches Stück und fantastische Inszenierung: Das ist ein Glücksfall.“ Der Moderator bemerkt die breite Zustimmung des Theaterpublikums („friedfertig, begeisterungswilig, euphorisch“) bei gleichzeitigem Unmut der Berliner Kritik. Kahle-Steinweh vermutet Neid, denn wer kann so viel reisen wie die Theatertreffen-Jury? Wille unterstellt dem Publikum Müdigkeit und Gleichgültigkeit (Zwischenruf aus dem Publikum: „Jawoll, müde und gleichgültig!“), widerruft seine Behauptung aber sofort wieder. Das Publikum sei reflektierter als früher. Kein Türenknallen mehr wie bei Marthaler! Dafür gebe es ja die Publikumsgespräche.
15.08: Stichwort Publikumsgespräch! Müller rollt die Blackfacing-Debatte wieder auf. War Blackfacing ein Thema für die Auswahl der „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“? Wahl: Es handelt sich nicht um eine realistische Inszenierung. Die Zeichen, zu denen das Blackfacing gehört, sind codiert. „Ein cleverer Zugriff“ auf den vermeintlich ideologischen Brecht mit seinem „merkwürdigen Kapitalismusbegriff.“ Das Theater ist Kunstraum, kein Realitätsraum. Judith Butler wird zitiert: Auf dem Bühnenraum, der ein Als-ob-Raum ist, darf man Zeichen produktiv gegen sich selbst wenden.
15.13: Was wünscht sich die Jury zum Abschluss? Wille: Weniger Premieren an den einzelnen Theatern, diese dafür reflektierter und mit mehr Risikobereitschaft. Kahle-Steinweh: Mehr Mut, auch innerhalb der Jury. Radikaler, politischer, vielleicht weniger Musik? Einwurf Müller: „Weniger Musik, jetzt, wo sie mal da ist?“ Der Rest der Jury ist wunschlos glücklich. Die Diskussion wird eröffnet.
15.16: Zuschauerin 1: Früher war alles spannender. Heute werden Inszenierungen im Fernsehen übertragen, man selbst reist umher, das Publikum ist ein internationales. Die Offenheit nimmt dem TT den Reiz. Bitte mehr Überraschungen! (Einwurf: Was ist mit „Disabled Theater“, mit Milo Raus „Hate Radio“?) Offenbar wünscht sich die Zuschauerin eine striktere Kartenpolitik (künstliche Verknappung der Eintrittskarten?). Zuschauer 2 (er selbst zählt sich zur Generation der heute 70-Jährigen): „Wir haben 3 1/2 Aufführungen gesehen: „Medea“ (toll), „Murmel Murmel“ (auch okay), „Disabled Theater“ („Betroffenheitsbonus!“), „Die Ratten“ („da sind wir gegangen: ein unverständliches Schreien.“). Was fehlt, ist das Suchen nach dem Essentiellen.“ Theaterzeichen haben sich geändert (Dürr). Krawallstimmung kommt auf. Teile des Publikums fühlen sich altersdiskriminiert. Die ersten gehen.
15.23: Teilnehmerin des Internationalen Forums: Vom Theatertreffen bleibt ein schaler Nachgeschmack. Große Stoffe, gegen die man nichts sagen kann, renommierte Regisseure. Es fehlt die Reibungsfläche. „Wir (das Forum) konnten mit vielem nichts anfangen.“ Geldverschwendung? Zusammenfassung der Juryeinwände: Generation 20 Plus hat andere Interessen als Generation 70 Plus: Ein ewiger Interessenkonflikt! Wahl: Es wurden doch große Themen verhandelt, etwa in „Krieg und Frieden“! Forumsteilnehmerin: Die Formen ändern sich, aber es geht um den (fehlenden?) Inhalt. Andere Teilnehmerin des Internationalen Forums: große Rührung bei den Forumsteilnehmern, von Geldverschwendung kann keine Rede sein. Jedoch: Bei „Orpheus steigt herab“ bleibt in Erinnerung: Ein Karussell (20.000 Euro wert?), Hunde, Motorräder und für nicht-deutschsprachige Zuschauer das Wort „Nigger“. Es geht doch mehr um die Regisseure und deren Mittel. Entgegenung Wille: Das Geld ist immer die Crux. „Das Wesentliche ist das ausschlaggebende Argument.“ (das Wesentliche wovon?)
15.36: Eine Zuschauerin will die Blackfacing-Sache so nicht stehen lassen. Es bestehe immer noch Diskussionsbedarf, gerade im Theater. Reproduzierte Stilmittel wie in der „Johanna“ könnzen funktionieren, aber nicht wenn das so unreflektiert wie bei Baumgarten passiert. Bezeichnungen wie „Nigger“ könnten falsch verstanden werden und zur Wiederaneignung führen (Am 12. Juni findet zum Thema eine Diskussion im Haus der Berliner Festspiele statt). Wahl verteidigt die Reflexionsarbeit der Jury: Blackfacing in der „Johanna“ ist keine Rekonstruktion. Mehrere Zuschauer wollen etwas sagen, der Moderator will die Diskussion abschneiden: Es wird doch thematisiert! Zuschauerin: Wo sind denn die Linien für die De-Konstruktion? Jury: „Der Chinese als Klischee der aufkommenden Bedrohung, der Cowboy als Kapitalist – alles ist klischierte Unterhaltungsebene.“
15.47: Noch einmal Blackfacing. Missmut im Publikum. Ist es nicht anmaßend, wenn eine ausschließlich weiße Jury entscheidet, was De- und was Re-Produktion rassistischer Zeichen ist? Kahle-Steinweh: „Dann finden Sie doch mal einen schwarzen Theaterkritiker im deutschsprachigen Raum!“ Zuschauerin: Debatte müsste differenzierter verlaufen. Bei Baumgarten war der Zeichenkontext klar. „Nigger“ ist bei Williams eine Zuschreibung, die man im Zusammenhang lesen muss. „Übertitelt werden musste nicht, es war ja für ein deutsches Publikum.“ (Hoppla!) Tobi Müller regt Themenwechsel an.
15.54: Zuschauerin: Bitte das nächste Mal an das Publikum denken! Bei „Medea“ habe sie nichts sehen können. Die Festspielleiterin lenkt ein: Kartenpreis wird bei Sichtbehinderung zurückerstattet! Nächste Frage von einer sehr ironisch gestimmten Zuschauerin: Welche Kriterien gab es für die Einladung von „Disabled Theater“? Boenisch antwortet; ich werde von Bühnenwatch-Handzetteln abgelenkt, die jetzt durchs Publikum gehen. Teilnehmerin des Internationalen Forums: „Gibt es nicht besonderere Theateraufführungen in Deutschland als die Einladungen fürs TT? Inszenierungen wie das „12-Spartenhaus“ oder „Remote Berlin“? Antwort: Diese beiden Inszenierungen konnten nicht berücksichtigt werden, da sie aus dem Zeitraum fielen. Letztes Jahr war Vinges Vorgängerarbeit „John Gabriel Borkmann“ eingeladen. Kahle-Steinweh: „Wir suchen nicht zwangsläufig nach Inszenierungen, die aus dem Rahmen fallen.“
16.02: Was müssen (junge) Theatermacher in Deutschland heute beachten, um finanziert zu werden? Müller: 50-70 Prozent der Anträge für Fördermittel sind formuliert im schlechten Stil einer Wochenzeitung. Man erfährt wenig über die eigentliche Kunst. Leiterin des Stückemarkts Christina Zintl: „Wenn das Kriterium Innovation statt ‚bemerkenswert‘ gewesen wäre, wäre die Entscheidung dann anders ausgefallen?“ Ja, natürlich. Moderator beklagt schwindende Konzentration (ich stimme zu). Zuschauer: Warum sind Frauen in der Auswahl so schlecht vertreten? Dürr: Geschlecht steht nicht im Zentrum des Interesses, Quote bringt uns nicht weiter. Teilnehmerin des Forums: Es geht gar nicht immer um Innovation, sondern um das, was man sagen will. Müller: Fordern Sie mehr Realismus ein? Forumsteilnehmer: Es geht nicht um Mittel versus Inhalt, sondern die Einigkeit der Jury, durch die außergewönliche Positionen rausfallen? Gibt es die Sehnsucht nach Konsens? Boenisch: Natürlich gibt es Diskussionen und Entscheidungen, die nicht von allen befürwortet wurden. Leibold: Der Wille ist da, nicht im Mittelmaß zu landen. Boenisch: Man kann sich doch über vieles streiten, manche finden bei „Krieg und Frieden“ den letzten Teil schlimm, andere die ersten beiden …
16.13: Ende der Diskussion. Weitere Nachlese unter dem Twitter-Hashtag #Jury .