Looking for Kafka

Ausdruckslose Gesichter in der Redaktion, als die Sprache auf das Kafka-Gastspiel beim tt09 kommt. Andreas Kriegenburgs Münchner Der Prozess“-Inszenierung ist eingeladen, doch was soll man dazu sagen – Kriegenburg interessiert, aber Kafka? Warum und vor allem wie soll man überhaupt noch über Kafka nachdenken? Eine Recherche im Selbstversuch.

Kafkaregal im Dussmann

Zeitlos schick im Buchladen: das Kafka-Regal. Fotos: Kristin Becker

Den Einstiegstest mache ich nachts am Küchentisch. Muss man Kafka heute noch lesen, frage ich meine Berliner Gastgeberin. Die nickt überraschend heftig und findet, dass der Autor zeitlos treffend Miss- und Unverständnisse in der menschlichen Kommunikation beschreibe und auch für die Zwänge und Abgründe von gesellschaftlichen Systemen eine hervorragende Quelle sei. Das Relevanzbarometer steigt und ich merke mir, dass Kafka aktuell ist, weil er heutig ist.

Per Bettlektüre überprüfe ich die These kurz am Text. Schon die ersten Seiten in „Der Prozess“ scheinen eine Situation zu beschwören, die gerade Konjunktur haben könnte, ginge es nach derzeitiger Mehrheitsmeinung: Ein Banker wird verhaftet. Er gerät in die Mühlen einer unbestimmten juristischen Bürokratie und sein Leben aus den Fugen. Das Ende ist grausam, aber Kafka erzählt dies alles mit solch ironischer Nüchternheit, dass ich mich frage, warum ich ihn so lange nicht mehr gelesen habe. Vermutlich ein schulisches Trauma, das es aufzuarbeiten gilt. Als Therapie verschreibe ich mir eine Kafka-Recherche im Alltag.

Kafkas kalter Kaffee

Snach-Point Pflügerstraße

Snack-Point statt Café Kafkas.

Am nächsten Morgen fange ich an, wo auch der Wahlwiener Kafka angefangen hätte: im Kaffeehaus. Laut Internet gibt es in Berlin zwei Lokalitäten, die auf den Namen des Autors hören. In der Neuköllner Pflügerstraße, wo ich das Café Kafkas suche, gibt man sich allerdings unwissend. „Hier war schon immer ein türkisches Männercafé“, behauptet die Betreiberin vom Snack-Point, an dessen Stelle laut Stadtplan mein Ziel sein sollte. Auch in der spanischen Bar gegenüber, die angeblich seit mehr als zwanzig Jahren vor Ort ist, und in der Eckkneipe nebenan will man mein Café nicht kennen. Ich vermute konspirative Absprachen und hoffe auf mehr Transparenz in Kreuzberg.

Ex-Kafka Oranienstraße

Oranienstraße: Hier gab's auch mal Kafka-Essen.

In der Oranienstraße liegt laut Google Maps das Restaurant Kafka – mit deutschtürkischer Führung und französischer Küche. Das klingt vielversprechend und ist enttäuschend. Schon vor zehn Jahren sei der Laden pleite gegangen, erklärt mir ein Informant bei der Ortsbegehung und fragt mich, ob mir die ehemaligen Besitzer noch Geld schulden. „Das siehste nämlich nich mehr wieder“, sagt er mitfühlend, obwohl ich außer Zeit gar nichts investiert habe, was jetzt weg sein könnte. Ich schließe daraus, dass Kulinarik mit Kafka kein gutes Businessmodell ist. Und dass man sich nicht auf das Internet verlassen sollte, wenn es um Kafka geht.

Kaufen Sie Kafka!

Trotzdem stelle ich ebendort fest, dass die gebundene Billigausgabe von „Der Prozess“ (2006) am 8. Mai 2009, 16.01 Uhr, den Amazon-Verkaufsrang 277 einnimmt, was mir nicht schlecht erscheint. Die Gesamtheit der Alternativvarianten würde Kafkas Roman sicher noch ein ganzes Stück weiter nach vorne pushen. Im Kulturkaufhaus Dussmann an der Friedrichstraße gibt es jedenfalls auch kurz vor 23 Uhr noch über 34 verschiedene Kafka-Bücher im Taschenbuchformat und 30 Hardcoverversionen, nicht mitgerechnet die über das ganze Haus verteilten Sonderausgaben und das Schulbuchregal. Wo also die Gastronomie scheitert, scheint der Buchhandel ein andauernd gutes Geschäft zu machen.

Ein wahrhaft kafkaesker Ort ist am nächsten Tag die Berliner Staatsbibliothek: geräuschschluckende Teppichböden, ein verzwicktes Treppensystem und viele emsig konzentrierte Menschen, die in seltsamer Uniformität in die Tasten ihrer Laptops hauen oder Seiten von dicken Büchern umblättern. Hier hätte Kafka sicher Inspiration für ein neues Werk gefunden – Arbeitstitel: „Der Lesesaal“. Es würde um einen Langzeitstudenten oder einen ewigen Privatdozenten gehen, der jeden Tag in die Bibliothek kommt, um an einem großen Werk zu stricken, und nach und nach merkt, dass ihm die Wörter verloren gehen, die Bücher der Bibliothek verschwinden und sein Leben zum Stillstand kommt. Oder so ähnlich.

Das Theater um Kafka

In der Stabi lasse ich mir kiloweise die Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins kommen und stelle fest, dass Kafka in den letzten zehn Jahren zwar nicht besonders viel im Theater vorgekommen ist, aber immerhin öfter als der ebenfalls beim diesjährigen Theatertreffen vertretene Dramatiker Franz Xaver Kroetz. Ich bastle mir aus den Zahlen Vergleichsdiagramme, durch die mir die Bedeutung von Kafka fürs Theater rapide zu wachsen scheint.

Kafka Besucherstatistik

Glaube nur der Statistik, die Du selbst gefälscht hast. Alles echt dank Excel: Die Kafka-Kroetz-Statistik. Diagramm: Kristin Becker

Um aber keinem empirischen Irrtum aufzusitzen, frage ich bei den Spezialisten nach. Nadine Chmura, die Präsidentin der Deutschen Kafka-Gesellschaft, hat zwar keine Statistik, vermutet aber, dass Kafka viel im Theater gespielt wird. Der Theaterexperte der Gesellschaft, Michael R. Scholze, im Hauptberuf Schauspieler, widerspricht und beschreibt Kafka-Inszenierungen als theatrales Nischenprodukt. Durch die kraftvollen sprachlichen Bilder und die oft sehr dialogische Form seiner Werke eigne sich Kafka aber eigentlich hervorragend fürs Theater, erklärt er mir. Und dass sich umgekehrt Kafka-Texte durch das Theater auch besser vermitteln ließen als durch zwanghafte Schullektüre.

Kafka Snack

Für einen süßen Euro Kafka im Automaten am Zoo. Foto: Kristin Becker

Diese Behauptung will ich auf jeden Fall heute Abend in der „Prozess“-Inszenierung von Andreas Kriegenburg dem Lackmustest unterziehen. Mein vorerst letztes Erweckungserlebnis habe ich aber weder im Theater noch im Buchladen, sondern am Bahnhof Zoo. In Erwartung der S-Bahn studiere ich das Sortiment eines Süßigkeitenautomaten und entdecke im untersten Fach neben den Schokoriegeln einen gelb leuchtenden Fremdkörper: Ein reclamartiges Heftchen mit dem schönen Titel „Kafka und ich“ lädt mich zum Kauf ein. Leider habe ich mein Kleingeld kurz zuvor in einen Kaffee investiert. So bleibt nur die Hoffnung, dass nicht gerade dieses Buch die eigentliche Offenbarung gewesen wäre.

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Kristin Becker

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