Über das Netz als größte & schönste aller Bühnen. Ein Appell

Dies ist ein Beitrag von Gastblogger Jan Fischer.

Moderne Technik. Bild:  Bill Bertram, CC-BY-2.5

Der kleine, moderne Netzfreund, oder: Bühnenaufgang A. Technik. Bild: Bill Bertram, CC-BY-2.5


Ich lebe im Internet. Ich arbeite dort, ich verbringe meine Freizeit in ihm, ich trage seinen kleinen Bruder ständig in der Tasche mit mir rum, ich frage es in schwierigen Lebenslagen um Rat, ich diskutiere darin, ich verändere – bilde ich mir ein – im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten im Internet die Welt.
Die Sache ist die: Ich mag, ganz simpel, fast schon als Platitüde, gesagt, das Netz als Werkzeug, mich und meine Arbeit zu präsentieren, ich mag, dass ich ohne viel Aufwand, mich und das, was ich so denke, dort draußen in die Welt schicken kann, es zum Teil eines gigantischen, sprudelnden, sich überschlagendenen Systems werden lassen kann, das ganz tief unten von den hektischen Daumenbewegungen in den Ubahnen der halben Welt gepeist wird, von den tanzenden Fingern dieser abermillionen Menschen dort draußen. Ich mag die Weite.
Und genau deshalb enttäuscht mich immer wieder, wie sich diese schöne Kunstform namens Theater dort draußen in meiner digitalen Lieblingslandschaft so präsentiert.
Lieber raubkopiert als vergessen
Das geht schon damit los, dass die für mich überzeugendste Vision von der Zukunft des Theaters im Internet aus dem Jahr 1910 stammt. Das Buch heißt „Die Welt in 100 Jahren“, und in einem der Aufsätze darin schreibt der US-amerikanische Erfinder und Sprengstoffexperte Hudson Maxim: „Obgleich auch die kleinste Ortschaft ihr Theater haben wird, werden doch die Schauspieler in New York, Paris London oder Wien leben und dort auch spielen. Die Bühne solch einer Kleinstadt wird ein einfacher Vorhang sein, und der Hamlet, der London gespielt wird, wird mittels Fernseher, Fernharmonium und Fernsprecher, auf dem Schirm, der die Bühne in Chautauqua ersetzt, reproduziert werden.“ Tatsächlich kamen bei dieser speziellen Vision ja noch Hollywood und vor allem der Film als kleinergroßer Ableger des Theaters dazwischen – aber mal ehrlich: Groß angelegtes Livestream-Theater? Warum macht das niemand außer die MET und, vorausgesetzt, man betrachtet das als Theater, Metallica? Es muss ja nicht gleich im Kino sein (obwohl: Popcorn im Theater? Yay!), aber warum nicht jede Aufführung standardmäßig streamen, wenns sein muss, dann zahle ich eben meine 99 Cent um hinter die Paywall zu schauen, wasollls. Es ist mir oft genug passiert, dass ich in irgendeinem staubigen Archiv nach einer VHS-Kopie irgendeiner Aufführung stöbern musste und hinter auf ebay noch nach etwas, was diese VHS auch abspielen konnte, oder dass ich mir aufwändig DVDs zuschicken lassen musste, und mich fragte, warum ich das alles nicht auf Youtube finden kann, oder von mir aus auch illegal zwischen Pornowerbung eingebettet auf theater.to. Ich für meinen Teil werde ja lieber raubkopiert als vergessen.
Theater, das nicht aufhört
Ich glaube, was Hudson Maxim mit all der naiven Technikgläubigkeit seiner Zeit referiert, ist ein erweitertes Theater – ganz einfach räumlich gedacht: ein Theater, das nicht da aufhört, wo der Publikumsraum aufhört. Eines, das ganz natürlich, weil es eben geht, weil es auch so sein sollte, die modernsten technischen Möglichkeiten („Fernharmonium“) nutzt, um seinen Publikumkreis zu erweitern, ohne großartige inhaltliche Veränderungen. Technische Möglichkeiten ganz pragmatisch als Werkzeug gedacht – nicht als welterschütternde Revolution.
Fliegende Penisse
Es ist natürlich schwierig, hier „Theater“ so grob zu verallgemeinern – sicherlich gibt es Ausnahmen, von eigenartigen Theater-Versuchen (ja, auch mit fliegenden Penissen) in  den längst verlassenen Ruinen von Second Life bis hin zu Livestream-Experimenten in unterschiedlichsten Theatern. Die Sache ist dann aber: Man muss sich immer noch mit Worten wie „Versuch“ oder „Experiment“ herumschlagen, wenn man sich damit befasst, es ist immer noch berichtenswert, wenn Theater Aufführungen über ihre Türen, über diesen viel zu kleinen Publikumsraum hinaus öffentlich machen oder vielleicht auch mal ganz auf Türen verzichten und sich komplett ins Netz verlagern. Es stellt sich aber trotzdem niemand abends die Frage: Gehe ich heute Abend ins Theater, schaue ich mir den Livestream an oder vielleicht doch die Aufzeichnung?
Lieber Theatertwittern als Fernsehtwittern
Tatsächlich ist das aber auch wieder nur ein Symptom davon, wie vor allem die großen Häuser mit den den Möglichkeiten des Netzes umgehen, nämlich nicht als Diskussionsplattform, geschweige denn als erweiterte Bühne, sondern als Werbeplattform. Wer Sonntagsabends Tatort oder Germany’s Next Topmodel schaut, twittert ganz selbstverständlich darüber. Selbst der Ingeborg-Bachmann-Preis hat seinen eigenen Hashtag, und das ist Literatur, die sind sonst immer langsamer. Twitter im Theater? Großes, berichtenswertes Ereignis, Riesending. Riesenexperiment. Dabei lohnt die Diskussion über eine gute Inszenierung soviel mehr als die über irgendein mittelprächtiges und vorhersehbares Fernsehstück, auch und vor allem über die Vorstellung, über den Pausensekt hinaus.
Das Raum-Zeit-Problem
Theater haben immer dieses Raum- Zeit Problem, diese Standardeinstellung: Es gibt einen Raum, in dem etwas passiert, und es gibt eine Zeit, zu der es passiert, danach ist es vorbei und alles ist wieder dunkel. Jede Vorführung ist zeitlich und räumlich begrenzt. Was wäre, wenn das nicht so sein müsste? Es geht diesem Satz von Hudson Maxim auch darum, die Blase zu erweitern, in der ja vor allem Theater steckt. Mehr Menschen das zugänglich zu machen, wofür so viele andere Menschen geschwitzt haben bis es dort draußen auf der Bühne war. Selbstverständlich, dieses eine Bühnenereignis ist nicht reproduzierbar, aber was wäre, wenn es dort draußen noch größere, andere Bühnen gäbe? Solche, die zwar schwerer zu bespielen sind, aber dafür auch leichter zu erreichen, von mehr Menschen? Wenn man sich um diese Bühnen kümmern würde, so richtig? Wenn man sich schon darauf einlässt, Theater zu machen, dann sollen es doch auch soviele Menschen wie möglich sehen.
Zeigt mir etwas, was sich lohnt
Ja, die meisten Theater, Freies wie auch die großen Bühnen, haben sich ihre Kanäle gebastelt: Es gibt Twitter-Accounts, es gibt Facebook-Accounts, es gibt manchmal sogar Youtube-Kanäle, die je nach Theater regelmäßig befüttert werden, meistens mit Werbung Die Standard-Einstellung ist: Es gibt dieses Ding auf der Bühne, das ist die Hauptsache, das wichtigste. Alles andere ist PR. Aber was wäre, wenn man das mal andersrum denkt? Das Netz ist kein besserer, größerer Flyer, kein Werbemedium. Das Netz ist eine Bühne. Ich weiß, Internet ist schwer, das macht man nicht so nebenbei. Wenn ich in einem Theaterraum bin, kann ich nicht raus, bis die Sache gelaufen ist, ihr habt meine Aufmerksamkeit, egal, was ihr auf der Bühne anstellt. Im Netz will ich überzeugt werden, sofort, in dieser Sekunde, sonst bin ich weg. Ich bin bereit, mitzuarbeiten. Aber ich bin nicht bereit, mir ausschließlich Links zu euren aktuellen Veranstaltungen anzuschauen und vielleicht nochmal einen Link auf irgendsoeinen Werbetrailer. Da mache ich nicht mit, das interessiert mich nicht. Social Media ist ein hartes, hartes Brot, klar, aber zeigt mir etwas, was sich lohnt. Zeigt mir etwas, was sich nicht der Vorstellung auf der Bühne unterordnet – zeigt mir etwas, was sie erweitert, umdenkt, neudenkt, unterwandert. Seid euch nicht zu schade für den schnellen Witz, zeigt mir Pointen, zeigt mir Knaller, begeistert mich, bewerbt mich nicht. Dann bin ich dabei. Dann mache ich mit. Dann machen alle mit. Dann schauen sich mehr Menschen, als in euren großen Saal passen an, was ihr macht. Dann reden wir alle drüber, und freuen uns, dann belohnen wir euch mit Millionen Klicks. Versprochen. Das Netz ist eine Plattform für Selbstdarsteller. Das Netz ist die größere Bühne. Ihr seid die die Profis. Macht was draus. Mit demselben Verve, mit dem ihr diese andere, kleinere Bühne bespielt. Das kann doch noch so schwer sein.
Aktuell findet gerade die Theater und Netz-Konferenz statt. TT-Blogger Manuel Braun hat sich in seinem Artikel „Das Internet ist keine Litfaßsäule“ ebenfalls damit beschäftigt.
Die Berliner Zeitung ist Partner des Theatertreffen-Blogs.

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Jan Fischer

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