Nicolas Stemann hat „Faust I + II“ als über achtstündigen Marathon inszeniert, das ist viel. Viel Stoff, viel Erwartung, viel Druck. Aber Erwartungshaltung und Druck dürften Stemann bekannt sein: In den letzten zehn Jahren waren fünf seiner Inszenierungen zum Theatertreffen geladen: 2002 „Hamlet“, ein Jahr danach Elfriede Jelineks „Das Werk“, später folgten Jelineks „Ulrike Maria Stuart“, Schillers „Die Räuber“ und zuletzt Jelineks „Die Kontrakte des Kaufmanns“.
Stemann, Jahrgang 1968, inszeniert seit 1995. Bereits im Jahr 2000 wurde er von „Theater heute“ als „Nachwuchsregisseur des Jahres“ ausgezeichnet. Seit seinen Anfangsjahren ist Stemann für „intelligent-radikale Inszenierungen biederer Klassiker“ bekannt, in denen er „mit rotziger Respektlosigkeit“ „sich selber und die Welt zur Disposition“ stellt. Das tat er damals, und das tut er auch heute noch. Allerdings sind seine Arbeiten nicht auf Klassiker oder Jelinek-Texte begrenzt, sondern umfassen auch eigene Projekte wie zuletzt „Aufhören! Schluss jetzt! Lauter! Zwölf letzte Lieder“ und „Der demografische Faktor“, zu dem es auch ein Blog gibt, um die Proben- und Diskussionsprozesse transparent zu machen. Diese Transparenz und Thematisierung von Theaterarbeit zieht sich auch durch die Inszenierung von „Faust I + II“.
So wird in „Faust II“ immer wieder verkündet: „Ungestrichen!“ – an dieser Stelle nun: ein Interview mit Nicolas Stemann – ungestrichen!
Adrian Anton: Nicolas Stemann, aus einem Interview zu den „Räubern“ stammt die Aussage „Es ging darum, den Text von den Stützrädern der Figur und der Psychologie zu befreien.“ Die Figur des Faust hingegen wird in dieser Inszenierung sehr auf ihre Psychologie hinterfragt, auch in den Kommentaren der Wissenschaftler. Lässt sich Faust nicht von der Psychologie befreien?
Nicolas Steman: Ich denke, wir müssen uns hier über die Verwendung des komplexen Wörtchens „Psychologie“ verständigen. Auch in meiner „Räuber“-Inszenierung wird ja etwas über Menschen, ihre Sorgen und Nöte, Leidenschaften und Konflikte erzählt, also über Psychologie. Ich glaube nun zwar nicht, dass ich „Faust“ in dieser Inszenierung explizit auf die Psychologie des Protagonisten fokussiert hätte (das war zumindest nicht meine Absicht), auch kann ich mich nicht erinnern, dass die Experten dies täten. Ich halte es aber davon abgesehen für völlig sinnlos und überhaupt nicht erstrebenswert, ein Werk wie „Faust“ oder „Räuber“ im Theater von Psychologie zu befreien.
Als ich von den Stützrädern des Textes sprach, ging es um ein ästhetisches Vorgehen. Der Text soll seine Energie entfalten, ohne dass man ihn (wie im Theater üblich) gleich als Sprechakt einordnen kann. Mir schien, dass es auf diese Art möglich war, ihn noch einmal ganz neu herstellen und erleben zu können, und zwar: frei von den Theaterklischees, die aufgrund des Klassiker-Status notgedrungen an ihm hängen!
Diese ästhetische Strategie kommt in der Faust-Inszenierung im Grunde ebenfalls zur Anwendung – wenn auch mit völlig anderen Ausformungen. Während in den „Räubern“ ein Chor aus vier Männern jeweils eine Figur verkörpert, ist in Faust zunächst ein Schauspieler alles. Das ist durchaus auch psychologisch deutbar – als Zeichen großer Egomanie etwa, oder Einsamkeit oder Hybris oder Überforderung (oder alles zusammen) –nicht aber unbedingt sofort als die Psychologie der Figur Faust. Vor allem ist es keine bloße Abbildung von Figur und Psychologie im klischierten Sinne – (und darum ging es mir in der Absage an die Psychologie im Zitat zu den „Räubern“). In der ersten Stunde tritt ein Schauspieler auf und spielt alle Figuren des Stückes, dann folgt ein anderer, der das gleiche tut und schließlich eine Schauspielerin, die den Text nach dem gleichen Prinzip behandelt. Dass es sich bei dem ersten um Faust, bei dem zweiten um Mephisto und bei der dritten um Gretchen handelt, kann man so sehen, es ist sicher auch nicht sinnlos, das zu tun – aber es ist nicht zwingend. Während der Proben haben wir eine solche Benennung bis zum Schluss vermieden.
Es sollte immer um das Stück „Faust“ gehen, dann erst um die Figur. Sollten wir für die Psychologie des Stückes (die ja natürlich von der Figur geprägt wird) eine zwingende formale Entsprechung gefunden haben, dann würde mich das sehr freuen. Noch einmal: ich habe nichts gegen Psychologie – nur gegen ihre Degradierung als bloßes Stützrad.
A.A.: Ein großes Thema in „Faust I + II“ ist das Scheitern – in unserer Gesellschaft ist Scheitern auf zahlreichen Ebenen zwar ein Massenphänomen, aber trotzdem eher ein Tabuthema, das häufig als individualisiertes Problem verhandelt wird. Warum scheitert Faust – und was hat dieses Scheitern mit uns heute zu tun?
N.S.: Faust scheitert doch vor allem an seiner Unfähigkeit, sich ein Scheitern einfach mal zuzugestehen. Scheitern ist für ihn keine Option – dann schon lieber ein Pakt mit dem Teufel.
In dem berühmten Anfangsmonolog „weiß“ er, „dass wir nichts wissen können“. Nun könnte man ja mit Kant und anderen Denkern der Aufklärung sagen: Ist doch super – da weißt du doch immerhin schon mal das, dann können wir uns innerhalb dieser erkannten Grenzen der Wahrnehmung doch mal ans Erkennen machen. Das wäre wissenschaftlich der richtige Weg. Aber nein, Faust hält das Wissen um sein Nicht-Wissen nicht aus und ergibt sich der Magie. An der er letztlich scheitert. Er ist getrieben von Ungeduld und wählt deshalb Abkürzungen. In gewisser Weise mogelt er. Die Folgen sind ihm dabei egal, auf jeden Fall jene, die in fernerer Zukunft liegen. Das ist uns alles heute sehr vertraut. Der unmittelbare schnelle Erfolg ohne jede Nachhaltigkeit als alleiniger Maßstab ist etwas sehr faustisches. Und uns als genuines Problem der Moderne bekannt, nicht erst seit der letzten Finanzkrise.
A.A.:2002 wurde „Hamlet“ zum Theatertreffen eingeladen, danach Elfriede-Jelineks-Inszenierungen „Das Werk“, „Ulrike Maria Stuart“ und „Die Kontrakte des Kaufmanns“ – Was reizt mehr: Klassiker oder Jelinek? Worin besteht der jeweilige Reiz?
N.S.:Beides ist auf seine Art reizvoll. Und da ich ja seit geraumer Zeit klassische Texte formal zunächst so behandle, als wären sie Textflächen von Frau Jelinek (indem ich sie nämlich – s.o. – von den Stützrädern der Psychologie und Figur befreie), ist da gar nicht mal so ein großer Unterschied. Wahrscheinlich fordern Jelinek-Texte das Theater noch einmal auf eine ganz andere Art heraus, sich neu zu erfinden oder zumindest zu definieren. Das, was man dann gelernt und erfahren hat, kann man dann wieder bei den Klassikern anwenden. Wenn man will. Was ich allerdings erst mal nicht mehr tue.
Für mich war „Faust“ gewissermaßen ein Höhe- aber auch ein vorläufiger Endpunkt in meiner Auseinandersetzung mit den Klassiker-Klassikern. Diese ganze Reduzierung des Theaters auf den Klassiker-Reproduktions-Schuppen ist mir ehrlich gesagt zunehmend suspekt. Warum muss man denn immer und immer wieder die gleichen Dinge hochholen – was ist das eigentlich für ein komischer Wiederholungszwang und bürgerliches Mantra. Ich bin im Moment ohnehin eher dabei, Projekte zu erarbeiten, die ganz ohne zuvor geschriebene Stücke arbeiten und habe das mit „Zwölf letzte Lieder“ am Deutschen Theater und „Der demografische Faktor“ am Schauspiel Köln auch mit großer Freude getan. Da liegen momentan meine Lust und mein Interesse. Und in der Musik.Was nicht heißt, dass ich mich nie wieder mit einem Klassiker oder einem Stück von Elfriede Jelinek beschäftigen werde. Was sowieso nichts heißt für irgendeine ferne Zukunft.
A.A.:Der Faust-Schauspieler Sebastian Rudolph hat den „Regisseur Stemann“ als sehr mutig beschrieben, der seinem eingespielten Team innerhalb eines bestimmten Rahmens sehr viel Raum ermöglicht. Wie würdest Du Deine Arbeitsweise beschreiben?
N.S.: Eine Mischung aus Kontrolle und völligem Chaos. Aus Wissen und kompletter Ahnungslosigkeit. Aus Spaß und Verzweiflung. Aus anarchischer triebhafter Spielfreude und tagelangem Rumgehirne. Wir reden und einigen uns auf bestimmte Dinge und tun dann das Gegenteil. Ich lege etwas fest und bereue es dann zutiefst. Vor allem, wenn man es nicht mehr ändern kann. Und das muss man irgendwann wieder einfangen. Oder auch nicht.
A.A.: 1997 hast Du auf Kampnagel die „Terror-Trilogie“ inszeniert und die „Gruppe Stemann“ gegründet, mit deren Mitgliedern Du teilweise auch heute immer wieder zusammen arbeitest. Ist Kollektivität am Theater möglich? Oder anders gefragt: Ist Kollektivität für Deine Arbeit wichtig?
N.S.: Kollektivität wichtig: ja. Theater ist eine kollektive Kunstform. Das ist es, was mich daran interessiert. Der Schauspieler, der mir zuhört, dem ich erkläre, wie ich mir etwas vorstelle, der nickt und sagt, er hätte verstanden, und der dann etwas vollkommen anderes tut – das kann ungemein belebend sein. Ich möchte auf der Bühne keine Ideen von mir sehen, ich genieße es, die Dinge in einen Prozess zu bringen – nicht der Regisseur entscheidet sondern das Medium. Auch spielt nicht der Schauspieler allein – die Energie findet zwischen ihm und den anderen, aber auch dem Licht, dem Raum, dem Text statt. Viele Theaterleute sind Egomanen und wollen dem Kollektiv ihren Willen aufzwingen. Ich will das auch, aber ich finde es super, wenn es misslingt – wenn die Konstellation eine produktive ist, ist das immer richtig!
Kollektivität möglich: nicht automatisch. Missverständnisse können produktiv sein, müssen es aber nicht. Es gibt entsetzliche Konstellationen zwischen Menschen im Theater, Konflikte, die nirgendwo hinführen als in die Erstarrung. Wenn die Konstellation aber stimmt (hierfür sind zum Beispiel Humor, Respekt und Vertrauen wichtig – oder eben eine gemeinsame Arbeitserfahrung), dann sind die Konflikte eigentlich immer produktiv. Man muss also für die richtige Konstellation sorgen. Darauf habe ich als Regisseur zwar keinen unbegrenzten, aber doch einen gewissen Einfluss. Den ich immer versucht habe, zu nutzen, um bestimmte Kontinuitäten in der Zusammenarbeit mit bestimmten Menschen aufrecht zu erhalten. Das ist, wenn man wie ich nie wirklich an eine Theater-Institution angebunden war, gar nicht so einfach. Aber, zumindest in meinem Fall: möglich. Bedeutet aber immer wieder kämpfen (um Gäste etwa) – und Intendanten (die ja im konventionellen Stadt-Theater immer wieder ihre meist quantitativ und oft auch qualitativ überproportionierten und unterforderten Ensembles unterbringen müssen) macht man sich damit auch nicht automatisch zu Freunden.