„Oh, jetzt habe ich Max Frisch vergessen! Dann muss die Braunkohle raus“

Roger Vontobels Wunsch-Feuilleton. Fotos: Grete Götze

Mit „Don Carlos“ wurde Roger Vontobel schon oft in Verbindung gebracht – nicht zuletzt, seit die Inszenierung des 34-Jährigen zum diesjährigen Theatertreffen eingeladen wurde. Weil aber noch viel mehr los ist in der Welt, bin ich mit ihm zum Zeitunglesen verabredet.

(12:00, Hotel Ramada, Wilmersdorf. Vontobel checkt an der Rezeption aus und kommt braun gebrannt und gut gelaunt auf mich zu. Wir setzen uns ins reichlich spießige Hotel-Restaurant, ich packe die Zeitungen aus, und nachdem wir die Du- oder Sie-Frage geklärt haben, geht es los.)

Wie würde heute deine ideale Seite eins einer Zeitung aussehen?
Hm, zum Glück bin ich nicht Zeitungsredakteur. (Grübelt.)

Es muss auch nicht Politik sein, einfach die Themen, die dich interessieren.
Irgendwas über Kindererziehung, vielleicht über Kitas, Kindergeld.

Das spricht dich an?
Ja, jetzt ist mein Sohn Casper da, und deswegen ist das Thema. Ansonsten vielleicht etwas über Libyen oder den Euro.

Ok, wir halten fest: Im Aufmacher geht es um Kinder und im zweiten großen Text auf der Titelseite um den Euro.
Und auf Seite drei was über diesen tollen Dokumentarfilm Inside Job. Wie so eine Krake hat der Finanzsektor seine Tentakel überall drin. Das ist krass, was da alles zusammenhängt, so ein bisschen wie im Don Carlos.

Welche Zeitung liest du eigentlich?
Die Süddeutsche. Die habe ich im Abo.

Welchen Teil liest du zuerst?
Zuerst immer das Feuilleton. Dann gucke ich, ob es neue Theaterkritiken gibt. Oder Filmkritiken. Wenn ich das Feuilleton durch habe, fange ich von vorne an. Dann geht es zu den Seiten zwei und drei. Manchmal ist die Seite drei richtig cool, geile Geschichten, die sind meistens sogar noch besser als die im Feuilleton.

Was war denn die letzte Geschichte, die du erinnerst?
(Vontobel fängt an zu grübeln, schließlich): Das war eine Geschichte über Somalia und angekettete, psychotische Menschen, die wahnsinnig gemeingefährlich sind und gehalten werden wie Tiere. Die waren Kindersoldaten, und durch die Droge Cut sind die komplett durch. Einer hat Katzen gefangen, sie in einem Kissenbezug mit sich herumgetragen und dann gegessen.

Nehmen wir uns jetzt mal die FAZ vor. Da geht es im Aufmacher um die FDP, die sich neu formiert…
Finde ich völlig uninteressant, Innenpolitik interessiert mich nicht, außer die Themen gehen mich direkt an, wie Kultur oder Kinder. Ich empfinde Innenpolitik als extrem austauschbar.

Im zweiten großen Artikel auf der Titelseite geht es um Barroso, der Bedenken gegen Grenzkontrollen hat.
Finde ich informativ, aber da freake ich jetzt nicht aus und denke: Geil, den Artikel auf Seite fünf dazu muss ich unbedingt lesen. Komischerweise interessiert mich auch Europa nicht so in der Zeitung. Da verstehe ich meist nicht so ganz, was der Bezug zu mir ist.

(Er blättert sich weiter durch den Politikteil der FAZ, arbeitet sich zu den Kommentaren vor.)
Weiter hinten im Politikteil kommen oft noch ganz spannende Sachen. Hier zum Beispiel „Taliban-Racheakt für Tod Bin Ladins“. Das würde ich lesen. Diese Außengeschichten, in denen es zum Beispiel um Libyen geht, das finde ich spannend. Und Panorama lese ich auch gerne.

Da stehen eher leichtere Themen.
Genau, das ist für mich. (Er lacht und blättert weiter. Auf der Wissen-Seite bleibt er an einem Foto mit Plastikflaschen hängen.) Hier, den Artikel „Der Plastik-Planet“ würde ich sofort lesen. Geiles Bild dazu, das mich an das Bühnenbild von Sebastian Nüblings Inszenierung von „Hass“ an den Münchner Kammerspielen erinnert.

Dann lege ich dir jetzt mal die erste Seite der taz vor.
Auch da ist wieder Führungswechsel bei der FDP das große Superthema. Würde mich nicht interessieren. Ich bin seit längerem Nicht-Wähler. Auch, weil ich in der Schweiz zu wenig weiß, was innenpolitisch los ist. Um in Deutschland wählen zu können, müsste ich meine Schweizer Staatsbürgerschaft aufgeben, das würde ich nie machen.

(Weiter mit der ersten Seite der Berliner Zeitung. Vontobel runzelt die Stirn, statt Calgary steht im unteren Artikel in der Ortsmarke Calcary.)
Da wäre ich jetzt gerade total abgeturnt, mit Rechtschreibfehlern bin ich echt penibel, das sollte Zeitungen nicht zu oft passieren.

(Nun wird die Bild-Zeitung in den Blick genommen. Vontobel bleibt bei Lena auf der Seite acht hängen.) Dieses Lena-Phänomen interessiert mich.

Findest du die süß?
Süß nicht, eher hübsch. Mich interessiert an ihr eher das Gemacht-Werden, die Frage, wie schnell jemand hoch geht und wieder herunterfällt. Damit beschäftige ich mich auch bei Schillers Johanna. Lena und sie ähneln sich, weil sie beide Spielbälle mächtiger Produzenten sind. (Er blättert weiter auf Seite elf, zum Artikel über die Beerdigung von Gunter Sachs.) Sein Selbstmord hat mich sehr berührt. Mich interessiert das Alt-Werden, was es mit Menschen macht.

Also auch ein Thema für deine Seite eins?
Genau. Dann stehen da jetzt Kinderbetreuung, der Euro und das Altern.

(Es geht weiter zum Sport.) Liest Du generell den Sportteil?
Ich interessiere mich für Eishockey, das habe ich früher auch mal gespielt. Fußball ist nicht so mein Ding, nur die WM gucke ich gerne.

Aha, ein typischer Opportunistensportgucker.
(Er lacht.) Den Sportteil lese ich nur im Zug. (Vontobel blättert zur letzten Seite der Bildzeitung.)
Ashton Kutcher ist jetzt Charlie Sheen, verstehe, gut, das war’s.

Nachdem wir jetzt einen kleinen Spaziergang durch unterschiedliche Zeitungen gemacht haben, bitte ich dich jetzt, aus den unterschiedlichen Feuilletons vier Artikel herauszusuchen, die in deinem idealen Feuilleton stehen.
(Vontobel fängt an zu sortieren. Er bleibt bei einem Artikel in der Berliner Zeitung über Christoph Marthaler hängen, der die Wiener Festwochen eröffnet hat.) Hat der in Grönland ein Stück gemacht, ein subpolares Basislager, ist doch geil. 

(Vontobel nimmt sich das SZ-Feuilleton vor– und entdeckt einen weiteren Artikel über den Marthaler-Abend.)
Oh, jetzt habe ich einen Fehler gemacht, ich würde lieber den Artikel von Christine Dössel in mein ideales Feuilleton nehmen, weil die sehr toll über Theater schreibt.

(Er macht sich an das Feuilleton der FAZ, entdeckt die Rezension von Gerhard Stadelmaier über den Marthaler-Abend.)
Stadelmaier – lese ich nicht gerne.

Wieso nicht?
Der hat einmal so krass schlecht über mich und meine Inszenierung von mir bei den Salzburger Festspielen geschrieben, dass ich keine Lust mehr auf den habe.

Das war 2006, als Stadelmaier anlässlich deiner Inszenierung von Christian Dietrich Grabbes „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ schrieb: „Den Namen braucht man nicht zu erwähnen, weil er sowieso nie mehr auftaucht.“
Wenn er schreibt, dass es ihm eine Inszenierung nicht gefällt, dann weiß ich, dass ich sie großartig finde, aber nicht nur, weil er schlecht über mich geschrieben hat. Wenn er hier schreibt: „Marthaler reicht hier nicht weiter als bis zu sich selbst und seinen inzwischen fast schon technokratisch flutschenden szenischen Mitteln“ – dann denke ich mir, nee, Baby, das stimmt nicht. Eigentlich ist es gut, man kann auf seine Empfehlungen umgekehrt reagieren.

(Er blättert weiter, nimmt sich das taz-Feuilleton vor, entdeckt einen Artikel über Herbert Fritsch)
Das finde ich auch interessant, ich habe noch nichts von Herbert Fritsch gesehen. (Er entdeckt eine Anzeige der Komischen Oper Berlin.) Oh, auch interessant, Nicolas Stemann inszeniert in der Komischen Oper La Périchole, das würde ich gucken. (Auf Seite 25 entdeckt Vontobel einen Artikel über den weltweiten Netzkrieg.) Auch interessant!

So, jetzt notiere ich mal deine Auswahl.
Ok, erstens muss von der SZ die Kritik des Marthaler-Abends rein, dann das Interview über den World Wide War in der taz. Das Sonntaz-Gespräch mit der Malerin Lita Cabellut, einem ehemaligen Straßenkind ist auch gut. Aber da ziehe ich den Text von Alex Rühle über Ungarn in der SZ vor, denn ich mag es sehr gerne, wie Alex Rühle schreibt. Mich interessiert, wie sich das radikalisiert in Ungarn. Jetzt muss ich mich noch entscheiden zwischen Fritsch und einem Artikel über Braunkohle in der FAZ. Für mein privates Feuilleton würde ich Fritsch nehmen, wenn es auch für andere ist, nehme ich die Braunkohle. (Er blättert weiter.) Oh, jetzt habe ich Max Frisch vergessen! Dann muss die Braunkohle raus.

Gut. Was rätst du Kritikern deines idealen Feuilletons?
Kritiker dürfen ruhig kritisch sein, aber die Liebe zum Theater darf ihnen nicht verloren gehen.

(Wir machen uns auf den Weg zur U-Bahn. Vontobel fährt wieder zurück in seine neue Heimat Bochum, wo er gerade die Jungfrau von Orléans probt).

Wie ist es eigentlich, in Bochum zu wohnen?
Schön. In Hamburg haben wir sehr urban gewohnt, jetzt haben wir ein Reihenhaus mit einem kleinen Garten. Die Leute hier sind echt super, man kann sich auch mal den Rasenmäher ausleihen.

Hast du das schon gemacht?
Ja, den Vertikutierer. Rasenmähen ist gut zum Runterkommen.

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Grete Götze

Grete Götze hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie deutsche und französische Literaturwissenschaft studiert und war Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau. Für den Hessischen Rundfunk arbeitet die freie Journalistin als Filmemacherin u.a. beim ARD-Kulturmagazin „titel thesen temperamente“, außerdem schreibt sie für die FAZ und nachtkritik.de. Sie hat journalistische Nachwuchsprojekte etwa bei der Theaterbiennale „Neue Stücke aus Europa“ und an der Mainzer Universität geleitet und ist Alumni des Berliner Theatertreffen-Blogs.

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