Potenzierte Provinz

Heute abend feiert Christoph Marthalers Inszenierung „Riesenbutzbach“ Theatertreffen-Premiere. Wer oder was ist eigentlich ein Butzbach? Eine Aufklärung.

Butzbach. Nicht riesig. 12.000 Einwohner. Foto: Fritz Geller-Grimm

Ein Butzbach ist nichts Schönes. Soviel ist klar. Nie wurde in der Theatergeschichte ein Ort so inbrünstig gehasst wie dieser. Der große Welthasser Thomas Bernhard hat ihn zum ersten Mal auf die Bühne gebracht. In seinem Stück „Der Theatermacher“ schleudert, nein speit der von Hybris befallene Regisseur Bruscon unzählige Male den Satz, nein die Verachtung heraus: „Utzbach wie Butzbach“. Der fiktive Ort Utzbach, in dem Bruscon mit seiner Theatergruppe gastiert, ist Marianengrabentiefe Provinz. Den Utzbacher interessiert die Kunst des Regisseurs nicht, der „Blutwursttag“ ist für den Utzbacher ein wichtigeres Ereignis als eine Theateraufführung.

Utzbach ist also schon schlimm, und mit dem Vergleich „Utzbach wie Butzbach“ wird der ohnehin schon schlimme Ort noch schlimmer gemacht, indem er mit dem Allerschlimmsten gleichgesetzt wird: Butzbach. Und Christoph Marthaler setzt der ganzen Verschlimmerei noch eins drauf: Riesenbutzbach. Wenn Utzbach Provinz ist, dann ist Butzbach doppelte Provinz und Riesenbutzbach potenzierte Provinz und damit das absolute Grauen.

Butzbach gibt es wirklich

Während das Bernhard’sche Utzbach ein fiktiver Ort ist, gibt es seine Eskalation Butzbach wirklich. Es hat 12.000 Einwohner und liegt in Hessen, am Rande des Taunus, in der Wetterau, einer Region, in der man den Buchstaben „R“ auf eine beinahe schon amerikanisch anmutende Art und Weise tief im Rachen rollend ausspricht. Und ich bin dort aufgewachsen. Etwa zehn Kilometer von Butzbach entfernt. Ich kenne also das Grauen. Und auch den Blutwursttag. Der Blutwursttag ist kein offizielles Kalenderereignis, aber mindestens einmal im Monat stellte meine Mutter einen Topf auf den Tisch, in dem sich Blutwürste und Leberwürste auf Sauerkraut befanden. Dazu aß man gestampfte Kartoffeln. Oft gab es auch ein Schlachtfest zu feiern, gerne im Dorfgemeinschaftshaus, das man „DGH“ abkürzte. Da saßen dann die Bewohner, meist dunkelgrüne und braune Pullover und Jacken tragend, an langen Tischen und aßen Sauerkraut, Leberwurst, Blutwurst und Rippchen.

Ich erinnere mich an viele Schlachtfeste und an viel Sauerkraut in meiner Kindheit und Jugend. Woran ich mich nicht erinnere: Theateraufführungen, zieht man einmal das alljährlich von der Kindergottesdienstgruppe einstudierte Krippenspiel ab. Blutwurst hat also tatsächlich eine größere Bedeutung in und um Butzbach herum als das Theater.

Ich war Butzbach

Als ich das erste Mal im Theater war, war ich siebzehn. Ich hatte Deutsch als Leistungskurs an der Schule und eine engagierte Lehrerin, die uns mit etwas logistischem Aufwand ins rund fünfzig Kilometer entfernte Frankfurt lotste, damit wir dort Theater anschauten. Eine der ersten Inszenierungen, die ich im Schauspiel Frankfurt sah, war Thomas Bernhards „Theatermacher“. Ich erinnere mich nicht mehr, wer Regie führte (Peter Eschberg, vielleicht), und zum Hauptdarsteller fällt mir nur noch ein, dass er Österreicher war und mittlerweile hauptsächlich in ARD-Filmen die Rolle des lustigen Pfarrers spielt. An was ich mich aber noch sehr gut erinnere: Wie mir durch die Verachtung „Utzbach wie Butzbach“ klar wurde, dass Provinz ist, wo ich bin. Ich war Butzbach.

Und so gab es nach meinem Abi auch nur ein Ziel für mich: Raus aus der Provinz, rein in die Metropolen. Auch und vor allem wegen der Kultur. Mit Peter Eschberg und dem Schauspiel Frankfurt fing es an, und als ich das erste Mal am Hamburger Schauspielhaus eine Inszenierung von René Pollesch sah, änderte das für mich alles. Ich war dem Theater verfallen.

Die Butzbacher wüssten mehr Kultur sicher zu schätzen

Die Provinz hat das nicht geschafft. Und das ist schade. Ich lebe nun seit über zehn Jahren nicht mehr um Butzbach herum, aber schaut man auf die Webseite des Orts, scheint sich dort nicht viel geändert haben. Im Openair-Kino läuft „Twilight“, Fahrradfahrer werden ermahnt, in der Fußgängerzone abzusteigen und die Amtliche Bekanntmachung „Betreten des Waldes nach Windwurfereignissen“ klingt, als hätte sie Thomas Bernhard für eine seiner Figuren geschrieben.

Die Weltkomödie findet nicht in Butzbach statt. Ein größenwahnsinniger Regisseur würde dort im Dorfgemeinschaftshaus höchstwahrscheinlich genauso scheitern wie Bruscon bei Bernhard. Die Weltkomödie muss ja auch vielleicht gar nicht nach Butzbach. Doch ein bisschen mehr Kultur als „Twilight“ wüssten sicherlich auch die Butzbacher zu schätzen. Wenn sie nicht gerade am Blutwursttag stattfindet.

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Judith Liere

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