Gestern eröffnete der Stückemarkt mit „Who cares?!“ des Performance-Kollektivs Swoosh Lieu. Unsere Autorin sah viel Museales und neonpinke Rauchbomben.
Eine hochschwangere Rosie the Riveter ballt entschlossen die Faust. Marlene Dietrich stellt in lasziver Pose ihre Attribute zur Schau: Hosenanzug, Zylinder, Zigarette. Catwoman, gekleidet in #allblack und Kunstleder, zeigt ihren Phallus durch die Hose. Eine sissieske Königinnenfigur im historischen Glitzerdress reiht sich neben einem Fleisch gewordenen Marienbildnis ein: Wie aus der Zeit gefallen trägt die Madonna mit Strahlenkranz stumm ein Kinderbündel im Arm.
Es sind kunsthistorische und popkulturelle Ikonen der Weiblichkeit, die in der Multimedia-Performance „Who cares?!“ des Kollektivs Swoosh Lieu an der Bühnenrampe ausgestellt werden. Jede von ihnen hat sich eine spezifische Geste angeeignet, die unablässig im Freeze wiederholt wird. Die Szenerie changiert zwischen dem Nachvollzug medialer Zurichtungspraxis und dem gestischen Potenzial zum Protest. Dass die Gesten überdauern, sich bildhaft verdichten und wirkmächtig zeigen, während die Kostümierung austauschbar ist, zeigt eine Wechselrevue der Kopfbedeckungen, bei der die Performerinnen reihum ihre Hüte, Krönchen und Katzenohren umherreichen. Das vestimentäre Erscheinungsbild ändert sich, die Körperhaltung dauert fort, wird zum Signum, zum Politikum. – Doch bis zu diesem „Zwischenspiel“ ist szenisch schon viel passiert.
Museales Display
Mit Kopfhörern ausgestattet, auf denen zunächst eine rauschende Tonspur läuft, betreten die Teilnehmer nacheinander den Theaterraum, der sich in ungewöhnlichem Gewand präsentiert: Es ist finster. Ein großes, leeres Zentrum wird seitlich flankiert von einer skulpturalen Anordnung weißer Baumwollwäsche, die in vier Stapeln sorgsam gefaltet auf dem Boden liegt. An den Wänden hängen weiße Leinwände im Stile der Minimal Art. Ihr Materialgrund: ebenfalls Baumwolllaken. Sie wurden in jüngster Vergangenheit wohl nicht gebügelt, so der Anschein. Die Besucher verteilen sich nach und nach im Raum, es wird voller. Sitzgelegenheiten oder gar einen abgetrennten Zuschauerraum gibt es nicht. In drei Ecken der Blackbox-Bühne befinden sich Konsolen mit gläsernen Schaukästen, in denen aufgeklappte Laptops stehen. Das museale Display lädt zu einem genaueren Blick auf die Geräte ein: Die Bildschirme zeigen Audioprogramme, in denen zahlreiche digitale Tracks parallel laufen.
Seit dem Eintritt in die Szenerie ist auch auf den Kopfhörern ein mehrkanaliger Sound zu hören. Fragmente aus narrativen Interviews und akustische Einspieler eines rhythmischen Chors überlagern sich. Die Zuschauer teilen zwar den szenischen Ort, zugleich etabliert jeder einen individuellen Soundspace. Manche flanieren durch die abstrakte Kulisse, immer mehr setzen sich randlängs auf den schwarzen Boden. Rund um die im Spotlight stehende Wäscheskulptur bildet sich eine Leerfläche.
Discokugel-Ästhetik und Stimmen aus dem Off
Die Narration via Kopfhörer beginnt mit der Schilderung einer Wohnung: Vom Wohnzimmer über den Flur wird der Zuhörer zu „ihrem“ Raum geführt. Wer von wem spricht, bleibt offen. Cut. Eine zweite weibliche Stimme – sie klingt dieses Mal älter und hat einen rheinischen Einschlag – beschreibt ihre Arbeitszimmer im SM-Studio. Wichtig seien frische weißen Laken, die jederzeit bereitliegen. Cut. Neue Stimme. Sie erzählt von der Notfallabteilung. Wo? Wer? Unklar. Paradox sei, so die Stimme, dass der Sozialraum dort neben dem Abschiedsraum liegt. Cut.
Stimmen wiederholen sich, die narrativen Fragmente werden kürzer und beginnen, sich zu überschneiden. Stigmatisierung und Kriminalisierung der Sexarbeit. Cut. Selbststigmatisierung. Cut. Schlechte Bezahlung. Cut. Doppelleben. Cut. „Was du machst, könnte ich ja nicht.“ Cut. Nicht-Biodeutsche landen häufig in bestimmten Berufsgruppen. Cut. Ein Dank wäre angemessen. Cut. Erschöpfung. – Währenddessen werden die Wandpaneele wechselnd bunt ausgeleuchtet, die weißen Projektionsflächen mit Neonfarben überschrieben. Diese Discokugel-Ästhetik kontrastiert die Stimmen, die abgekoppelt von konkreten Körpern mehr und mehr persönliche Einblicke in multiple soziale Rollen gewähren, von inneren Widersprüchen durchzogen.
Gesten des Aufbegehrens
Plötzlich betreten die fünf Performerinnen mit Kostümen in ikonischer Mimesis den Raum. Die Teilnehmer werden mit einem Besen vom Boden gefegt, – es werde Licht –, ein Vorhang öffnet sich, gibt den Blick auf den bestuhlten Zuschauerraum frei. Wie erleichtert bewegt sich die Masse in Richtung der Sitze. Im Präsentationsformat der Guckkastenbühne folgt ein Stück in fünf Akten inklusive Zwischenspiel als Tableau Vivant, seduktiver Pause und aufbegehrendem Epilog. Der Soundkanal bleibt auf den Kopfhörern der Zuschauer, die vereinzelt, zugleich versammelt den Fortgang des Abends verfolgen.
Was geschieht? Im Zeitraffer: Die Bettlakenskulptur wird auf Wäscheleinen gehängt, die als Projektionsfläche für Bewegtbilder und Textprojektionen dienen. Eine Performer-Narratorin führt durch den Abend, verweist auf Frauenfiguren der westlichen Literaturgeschichte, verflochten mit Anzitierungen der mitwirkenden Performerinnen. Alle Frauen sind nur mit Vornamen zu haben: Antigone, Medea, Elektra, Nora, Emilia, Mascha und ihre Tschechow‘schen Schwestern stehen im Hier und Jetzt Katharina (Kellermann und Speckmann), Johanna (Castell), Lani (Tran Duc) und Rosa (Wernecke) gegenüber, vermengen sich mit ihnen diskursiv. Der Abend endet mit einer Vision im Futur II: Die Care Revolution wird bei „Who cares?!“ als Modell einer geglückten Utopie durchgespielt. Ihre Ziele: eine gesellschaftliche Transformation, die Geschlechter- und Genderdichotomien überwindet, Diskriminierungen intersektional ausschaltet und Care-Arbeit ideell wie monetär wertschätzt.
Die vielstimmige Performance setzt nicht nur auf die Wirkkraft der Stimme, sondern ist beständig auf der Suche nach radikalen Gesten. Um solche Gesten des Aufbegehrens geht es zeitgleich auch anderswo im Haus der Berliner Festspiele. Die künstlerische Intervention des Kollektivs LIGNA lädt mit soundgestützten Weisungen dazu ein, über die Aneignung fremder Haltungen eine eigene zu finden, die den Weg von unten nach oben sich erkämpft. Eine virtuose Meta-Geste des Aufbegehrens wird mit Swoosh Lieus Performance gefunden – daran kann auch die grellpinke Rauchbombe nicht rütteln, die den Abend so plakativ beendet.
Who cares?! – eine vielstimmige Personalversammlung der Sorgetragenden
von Swoosh Lieu
Konzept, Performance, Bühne, Licht: Johanna Castell
Konzept, Performance, Sound: Katharina Kellermann
Konzept, Performance, Video, Licht: Rosa Wernecke
Mit: Performance, Text: Katharina Speckmann; Bühne, Kostüme, Performance: Lani Tran Duc; Bühne, Kostüme: Anika Marqardt; Dramaturgie: Stawrula Panagiotaki; Bühnenbild-Assistenz: Friederike Schmidt-Colinet; Produktionsleitung: Bernhard Siebert; Hospitanz: Verena Katz; Englisches Voice-Over: Mareike Wenzel.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten