They Don’t Really Care About Us. Kritik zu „Disabled Theater“ von Jérôme Bel

Gestern Abend hatte Jérôme Bels „Disabled Theater“ Theatertreffen-Premiere im HAU 1. Lesen Sie hier außerdem ein Interview mit dem Schauspieler Damian Bright, hier eines mit dem Regisseur Jérôme Bel.

Menschen mit Behinderung darf man nicht anschauen. Das haben uns unsere Mütter schon beigebracht. Und man darf sie nicht anlächeln. Das geht überhaupt gar nicht.

Während der eineinhalb Stunden Theatererlebnis in Gesellschaft von Jérôme Bel und seinem Ensemble vom Theater Hora, überschreitet man beide Verbote sofort. In der Inszenierung „Disabled Theater“ spielen elf Schauspieler mit, die alle mit Down-Syndrom oder Lernbehinderung leben – oder sogar mit beidem. Das erfährt man schon in erster Szene, wenn jeder einmal vorn auf der Rampe für eine Minute steht. Einige nehmen sich mehr Zeit, andere weniger. Es geht nicht um Präzision, sondern vielmehr um Präsentation, und der Schauspieler präsentiert sich selber auf die beste Art und Weise. Die Schauspieler stellen sich vor. Sie erzählen, lächeln, weinen und tanzen zu ihrer Lieblingsmusik, machen Witze, kümmern sich umeinander und reflektieren über das Stück. Chris, der Übersetzer auf der rechten Seite, ist für die Dramaturgie verantwortlich. Die elf Schauspieler setzen sie um.

Die Beobachtung, die im Stück in ein Spiel umgesetzt wird, ist nicht nur zweideutig sondern dreideutig. Der Blick des Beobachters verfolgt nicht nur die Szene und den Schauspieler, sondern auch sich selbst und den ganzen Saal. Die Position des Beobachtenden ist so stark herausgestellt, dass man sie nicht ignorieren kann. Die Reflexion über die persönliche Reaktion ist allgegenwärtig und birgt Konflikte. Was wird von mir als Zuschauer erwartet? Ist das überhaupt Theater? Ist es mir erlaubt zu lächeln? Darf ich nicht klatschen? Die Zweifel und Fragen sind vielfältig.

Ich stelle mir selbst die Frage, ob es nicht genau diese intensive Reflexion ist, die bewirkt, dass man seine passive Rolle als Beobachter verliert und stattdessen ein aktiver Mitspieler wird. Die Schauspieler spielen vor allem mit uns, und wir dürfen ihre Einladung zur Partizipation nicht ausschlagen.

Die Spannung im Saal ist deswegen spürbar, und verschüchterte Blicke werden von hier nach dort geworfen. Wie reagieren die anderen, und was denken sie über meine Reaktion zum Bühnengeschehen? Unsicherheit schleicht durch den Saal. Die Schauspieler genießen merklich die Aufmerksamkeit und das Scheinwerferlicht. Sie haben sich selbst entschieden, auf die Rampe zu treten und bleiben dort auch.

Das, was herausgestellt wird, ist unsere Projektion auf den Begriff „disabled“: unser konstantes Bedürfnis zu wissen, was politisch korrekt ist. Warum müssen wir wissen, wie viele Chromosomen wir haben, um unsere Reaktion zu kontrollieren? Nach einer Stunde hat es mich auch nicht länger interessiert, und auch nicht ob die Schauspieler hinter der Bühne über mich gelächelt haben, als ich so offensichtlich falsch mitgesungen habe. Aber was mich immer noch beschäftigt ist, dass es so schwer für mich war, mich selber zu vergessen und aufzuhören, meine eigene Reaktion zu reflektieren. Ich glaube, dass ich für das Chromosom, das ich weniger habe, ein anderes Problem besitze.

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Mai Vendelbo zog 2011 nach Berlin. Sie studiert Visual and Media Anthropology an der FU Berlin und arbeitet als freie Fotografin. Zuletzt hospitierte sie am Maxim Gorki Theater.

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