Die Autorin Petra Hůlová legt mit „Zelle Nummer“ eine schwarze Satire über den Zustand der tschechischen Intellektuellen vor. Funktioniert das auch in Berlin?
In Petra Hůlovás Stück „Zelle Nummer“ hat sich die intellektuelle Elite in Zellen eingeschlossen, um die Zukunft des Landes zu planen. Nach 58 Tagen hat man sie draußen in der Welt aber längst vergessen. Vermutlich zu recht, denn anstatt gemeinsam an progressiven Visionen zu arbeiten, monologisieren sie isoliert vor sich hin. Manche fordern eine starke Nationalkultur als Fundament Tschechiens. Sie berufen sich auf Milan Kundera, Franz Kafka, Božena Němcová und Václav Havel, finden das dann aber zu dünn. Zelle 119 will am gegenwärtigen Zustand festhalten. Zelle 822 heckt ein tschechisch-polnisches Königreich aus. Andere fordern, einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen. Auch eine Oligarchie der wichtigsten Wirtschaftsbosse und eine nationale Wiedergeburt werden angedacht. Es gibt krude Polemik gegen Identitätspolitik („Auf Terror durch Minderheiten reagiere ich allergisch“) und rassistische Versuche, in der Karibik einen Naturzustand zu finden. Die Vorschläge werden alle abgetan. Nichts wird zu Ende gedacht. Die intellektuelle Elite ist zerstückelt und zerstritten.
Verklausulierte Hirngespinste
Die Welt da draußen scheinen die Denker*innen längst vergessen zu haben. Die Gegenwart leidet an Hippness, Latte macchiato und Elektrozigaretten. Die Jugend würde hemmungslos entspannen und tausche Ideale gegen individualistische „Feelings“. Bei all der Entpolitisierung würden schon 17 Flüchtlinge im Land genügen, um alle zu verunsichern, denn: „Die Flüchtlinge wissen, wer sie sind, aber die Tschechen nicht.“ Das Stück zeichnet das Bild einer gespaltenen Gesellschaft. Die Brüche zwischen rechts und links, Elite und Bevölkerung scheinen unüberbrückbar. Die elitären Figuren reißen unmögliche Vorschläge an und lassen sie wieder fallen, in wasserfallartigen Alliterationen.
Die Verwirrung im Stück steigert sich noch dadurch, dass ich die tschechischen, politischen Debatten nicht kenne und daher wahrscheinlich wichtige Anspielungen nicht verstehe. Verständnisschwierigkeiten haben auch die drei Schauspieler*innen während der szenischen Lesung. Immer wieder suchen sie nach Haltungen, mit denen sie den verklausulierten Hirngespinsten Leben einhauchen könnten.
Eine echte Intervention beim Theatertreffen
Kurz vor Schluss wird plötzlich ein Warnton eingespielt. Das Licht im Zuschauerraum geht an: Der Strom sei abgestellt, erklären die Schauspieler*innen. Vermutlich wegen Straßenkämpfen da draußen. Irgendetwas geht also vielleicht voran: Die intellektuelle Elite hat es zwischen rückwärts gewandtem Blödsinn und entspannter Hippness aber verschlafen.
Die szenische Lesung endet verwirrend und das ist auch gut so: Wer gedacht hat, in einer Stunde das Stück und seinen Hintergrund in der tschechischen Gesellschaft und Politik zu verstehen, kann nur scheitern. Ist Hůlovás Arbeit deshalb nur eine Intervention in die Prager Theaterlandschaft, die hier in Berlin nicht funktioniert? Nein, es ist auch eine Intervention in das Theatertreffen. Die Schwierigkeiten, auf die das Stück bei seiner Lesung in Berlin stößt, zeigen auf, wie stark das Theater lokal verortet und wie schwer es in Berlin fällt, die eigenen, lokalen Rezeptions- und Produktionsbedingungen zu hinterfragen. Die Frage nach der Zukunft Tschechiens, die im Stück verhandelt wird, entfaltet sich zu einer europäischen Frage: Ist das Berliner Publikum bereit, sich von einem tschechischen Stück verunsichern zu lassen? Schaut die gut finanzierte deutschsprachige Theatermaschine von oben herab auf das Theater in Tschechien? Was bedeutet der Bruch zwischen Elite und Bevölkerung aus Hůlovás Stück für das deutschsprachige Theater?
Zelle Nummer
von Petra Hůlová
Aus dem Tschechischen von Doris Kouba
Szenische Lesung
Einrichtung: Armin Petras
Dramaturgie: Maria Nübling
Musik: Jörg Kleemann
Mit: Jule Böwe, Svenja Liesau, Anja Schneider