„Warum willst du Theater spielen?“

In „Five Easy Pieces“ muss Peter Seynaeve den „bösen Mann" spielen. In Wirklichkeit ist er jedoch einer der charmantesten Menschen, denen sie je begegnet ist, behauptet unsere Autorin.

In „Five Easy Pieces“ muss Peter Seynaeve den „bösen Mann“ spielen. In Wirklichkeit ist er jedoch einer der charmantesten Menschen, denen sie je begegnet ist, behauptet unsere Autorin. Ein Gespräch auf der Hinterbühne. Mit lärmenden Kindern in der Künstlergarderobe.

TT-BLOG: Ich bin noch dermaßen aufgewühlt, dass ich gar nicht weiß, wie ich jetzt mit Ihnen ein Interview führen soll.

PETER SEYNAEVE: (lacht) Ja, dieser Abend ist für das Publikum meistens sehr emotional.

TT-BLOG: Ich hatte große Angst vor der Inszenierung. Das Thema rührt einfach an die größte Angst, die man als Elternteil haben kann.  

PETER SEYNAEVE: Ich verstehe das, obwohl ich selbst keine Kinder habe. Meine beste Freundin, die auch Mutter eines kleinen Kindes ist, will „Five Easy Pieces“ auf keinen Fall sehen. Sie sagt: „Es tut mir so leid, aber ich kann mir das einfach nicht angucken!“ – Aber Sie sind gekommen! Bereuen Sie es?

„Ich will hier mitmachen, aber ich will nicht so viel Text.“

TT-BLOG: Überhaupt nicht! Ich war sehr erleichtert, dass man als Zuschauer sozusagen nicht beschädigt wird. Es geht im Stück eigentlich auch nicht um den Horror, der tatsächlich passiert ist. Ich habe anhand der Konstellation des Abends viel darüber nachdenken müssen, inwieweit Kinder immer für die Erwartungen und Projektionen der Erwachsenen herhalten müssen. Das kommt ja alles vor, dass sie gute Noten schreiben sollen, die richtigen Lieder singen sollen, dass sie schön tanzen müssen…  

PETER SEYNAEVE: Deshalb war es für Milo Rau und mich auch völlig klar, dass wir, als wir angefangen hatten, an einem Stück über Kindesmissbrauch zu arbeiten, genau diese Parallele zeigen müssen: Dass wir Missbrauch thematisieren wollen und gleichzeitig die Kinder für dieses Thema „benutzen“. Wir wussten, dass wir das Machtverhältnis zwischen den Kindern und den Erwachsenen zeigen müssen. Gerade in Theaterproduktionen mit Kindern spürt man ja immer die Hand eines Regisseurs, aber man sieht sie nie. Also entschieden wir, das ganz deutlich zu machen und das beste Mittel dazu war dann einfach, mich mit auf die Bühne zu stellen und den Vorgang wirklich zu zeigen. So bin ich in der Rolle des Regisseurs mit auf der Bühne gelandet, das war ja so nicht vorgesehen.

TT-BLOG: Das war gar nicht der Plan?

PETER SEYNAEVE: Wir hatten keinen Plan (lacht). Wir wollten ein Stück über Marc Dutroux mit Kindern machen. Das war alles, was wir wussten. Ich hatte zuvor schon als Regisseur mit Kindern gearbeitet. Milo spricht kein Flämisch und hatte noch keine Erfahrung in der Theaterarbeit mit Kindern. Also bat mich Campo Gent, seine rechte Hand als Co-Regisseur zu werden. Am Anfang war ich für die Kinder einfach nur ihr Coach. Jemand, der ihnen beim Schauspielen geholfen hat und der das, was Milo gesagt hat, für sie übersetzt hat.

TT-BLOG: Wie wurde das Stück dann konkret entwickelt?

PETER SEYNAEVE:  Wir waren auf der Suche nach Kindern für das Projekt und wir veranstalteten ein Casting, bei dem wir aus über hundert Kindern sieben aussuchen mussten. Da landeten wir automatisch bei der Frage: „Warum willst du Theater spielen?“ oder „Was ist das, Schauspielen?“. Denn natürlich wollten wir mit den Kindern nicht nur über Dutroux reden, sondern über sie selbst. Die Kinder haben Talente, das wollten wir respektieren. So sagte zum Beispiel Elle Liza: „Ich will hier mitmachen, aber ich will nicht so viel Text. Ich will singen, ich kann sehr gut singen.“ (lacht) Und dann sang sie und dann sitzt du da und denkst: „Ja, du kannst wirklich gut singen!“ und dann haben wir gesagt: „Du willst wenig Text, du willst singen, okay, dann machen wir das so!“ (lacht) Oder wir haben auch gefragt, was sie später werden wollen. Willem sagte, er wolle Polizist werden. Maurice wollte einfach nur jemanden spielen, der alt und krank ist. Wissend, dass wir etwas über Dutroux machen wollten, haben wir dann von dieser Casting-Ebene aus das Stück gebaut. Jeder bekam die Rolle, die er wollte, und erst dann haben wir angefangen, dazu Texte zu suchen. Zum Beispiel für den Polizisten oder den Vater von Marc Dutroux, der alt und krank ist.

Es geht an diesem Abend auch um die Träume der Kinder.

TT-BLOG: Das ist das Tolle, zu sehen, wie die Kinder von ihrer Stärke und Begabung aus in die Geschichte gehen… Sie sind sehr autonom.

PETER SEYNAEVE:  Ja. Es geht natürlich auch sehr viel um… (schweigt) Dutroux hat die Kinder getötet und damit hat er ihnen auch ihre Träume genommen. Ich glaube, dass es an dem Abend auch darum geht, die Träume der Kinder zu zeigen. Und nicht denjenigen, der sie ihnen genommen hat. Und natürlich erzählt das dann noch umso mehr, wie schrecklich es ist, wenn Kindern ihre Träume genommen werden, weil man die Kinder auf der Bühne sieht, die welche haben.

TT-BLOG: Wie gehen die Kinder denn überhaupt mit dem ganzen Thema um? Als Kind hat man ja ein ambivalentes Verhältnis zur Gefahr. Es ist gefährlich und gleichzeitig faszinierend. Ich habe früher Klingelstreiche an dem Haus gemacht, von dem es hieß, da wohne ein Kindermörder…

PETER SEYNAEVE: Sie waren zur Zeit der Dutroux-Morde noch nicht geboren. Für sie ist es in gewisser Weise Fiktion. Es erscheint ihnen nicht real. Sie kannten die Geschichte nicht, also erzählten wir ihnen davon, sahen die Nachrichten und die Dokumentationen. Und nach einer Weile sagten sie: „Ah, ok! Das ist ja wirklich schlimm. Das ist ja noch schlimmer als der Erste Weltkrieg!“ (lacht) und wir antworteten „Nun, es ist nicht unbedingt schlimmer als der Erste Weltkrieg, aber es ist sehr schlimm und sehr traurig.“

TT-BLOG:  Das ist eine typisch kindliche Schlussfolgerung…

PETER SEYNAEVE : Genau. Es sind Kinder. Wir als Erwachsene betrachten das alles in einer anderen Dimension, weil wir glauben, dass wir mehr über die Welt wissen. Wir glauben, dass wir den Schmerz kennen, den der Vater des Opfers fühlt. Wenn ich das als Schauspieler spielen müsste, dann würde ich ja versuchen, in diesen Schmerz richtig reinzugehen, richtig versuchen zu weinen und was weiß ich nicht alles. Das ist aber überhaupt nicht das, was die Kinder machen. Sie spielen es, in dem Sinne, dass es für sie ein Spiel ist. Es ist für sie dasselbe, als wenn sie ein Märchen spielen müssten, in dem eine alte böse Frau Kinder fängt, um sie in einem großen Kessel zu kochen.

TT-BLOG: Es war so schön, zu beobachten wie Sie während der anschließenden Preisverleihung mit den Kindern umgegangen sind. Da konnte man richtig sehen, wie stark ihr Vertrauen zu Ihnen ist.

PETER SEYNAEVE:  Es ist wirklich ein starkes Vertrauensverhältnis. Ich weiß, auf der Bühne sieht es so aus, als ob ich der böse Mann bin… Das stelle ich aber überhaupt nicht dar, denn ich bin die ganze Zeit mit anderen Sachen beschäftigt. Ich muss die ganze Vorstellung am Laufen halten, ihnen durch den Abend helfen. Es geht ja auch ständig etwas schief, jemand muss auf die Toilette oder jemand zieht mich am Ärmel und flüstert: „Guck mal, die Frau in der fünften Reihe!“ (lacht) oder ich sehe, dass einer von ihnen gleich einschläft. Sie vertrauen mir, weil sie wissen, dass ich für sie da bin.

TT-BLOG: Ich habe Sie nie als den „bösen Mann“ wahrgenommen…

PETER SEYNAEVE:  Ich weiß, aber es hat eben immer diesen doppelten Bezug. Für mich als Schauspieler war es einfach schwierig, als Coach dazu überzugehen, auf der Bühne einen Coach zu spielen. Denn wenn ich den Coach spiele, mache ich ja Sachen, die ich als wirklicher Coach niemals machen würde. Zum Beispiel in der Szene, in der ich Rachel bitte, ihr Hemd auszuziehen. Damit hatte ich ein großes Problem. Das wollte ich auf keinen Fall machen. Nach Gesprächen mit der Psychologin, die das Projekt betreut hat, mit Rachels Eltern und mit Rachel selbst, haben wir es dann gemacht, aber das war sehr schwer für mich. Also, ja: Es ist eine absolute Vertrauensfrage.

TT-BLOG: Das sieht man.

PETER SEYNAEVE: Es ist schon verrückt, wir sind jetzt mit dem Stück seit einem Jahr auf Tour in Europa und darüber hinaus und das Durchschnittsalter meiner Schauspielkollegen ist zehn! Normalerweise geht man ja nach den Vorstellungen gemeinsam etwas essen und trinken und wenn man dann am nächsten Morgen im Flieger sitzt, ist es still… Das ist hier der Unterschied, wir gehen abends nichts trinken und am nächsten Tag ist es im Flieger alles andere als ruhig! Sie wollen am liebsten alle neben mir sitzen und ich soll mit ihnen spielen und mich mit ihnen unterhalten. Ich bin im Grunde ihr Freund. Ich bin ziemlich oft müde, aber es ist auch sehr bereichernd!

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Eva Marburg

Freie Dramaturgin, Autorin und Journalistin, Berlin. Studierte Theater- und Literaturwissenschaft in Berlin und New York und arbeitet neben ihrer dramaturgischen Tätigkeit als freischaffende Dozentin für Kulturgeschichte. Gegenwärtig studiert sie zudem Kulturjournalismus (MA) an der Universität der Künste Berlin.

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