Wie hältst Du es mit dem Theatertext? – Ein Bericht über RealFiktionen

Wo verortet sich die Gegenwartsdramatik im Theater und im Literaturdiskurs? Ist es möglich, das Theaterstück als ein autonomes literarisches Werk aus dem Theaterkontext herauszureißen? Das Symposium „RealFiktionen“ verhandelt diese Fragen und stellt sie zur Debatte. Zehn Autor*innen, die zwischen Prosa, Lyrik und Dramatik changieren, befassen sich mit dem Theatertext und stellen ihr Schaffen und ihre Gedankengänge performativ oder referierend vor. Unter ihnen auch Wolfram Lotz. Er veröffentlichte u.a. 2013 das Hörspiel „Die lächerliche Finsternis“ und wurde damit zum diesjährigen Theatertreffen eingeladen. Während im Haus der Berliner Festspiele die Inszenierung des Wiener Burgtheaters von Dušan David Pařízek mit der begehrten Theatertreffen-Auszeichnung geehrt wurde, hält der Autor zusammen mit seinem Kollegen Hannes Becker in der Lettrétage in Kreuzberg eine Lecture-Performance über das Verhältnis von Theatertexten im Betrieb.

Eine absurd in die Länge gezogene Einleitung zu einem weiten Themenfeld

Berlin/Kreuzberg, 14.05.2015, 20:00 Uhr
In dem kleinen Literaturhaus herrscht eine gelöste und intime Stimmung. Junge schöne Menschen mit schönen Großraumbrillen, schönen Wildlederjacken und schönen Duttfrisuren unterhallten sich angeregt, während das Burgtheaterteam in Wilmersdorf mit der Kulturschickeria und den versierten Theatertreffenbesuchern feiert. Warmes Licht strahlt auf die kalkweißen Wände der Lettrétage, uralte Holzstühle gruppierten sich vor dem Podium. Ein kleiner Kunstdruck eines Dreimasters auf hoher, stürmischer See ist als Bild im Bild an die Wand projiziert.

Ja, da steht er nun – Wolfram Lotz – ein wenig eingesunken über das Mikrofon gebeugt. Er haucht hinein und scheint sich sichtlich unwohl zu fühlen. Die Worte purzeln ein wenig zu schnell in rascher Abfolge aus seinem Mund, er verhaspelt sich, verknotet sich in Gedankenfäden und setzt immer wieder neu an. Eine Projektion von einem Theaterhaus wird hinter ihm auf die Wand projiziert. Es ist versehen mit nummerierten Markierungen, die die unterschiedlichen Bereiche eines Theaterhauses markieren. Lotz liefert den ZuschauerInnen in kürzester Zeit einen Rundgang durch ein Theater „im Ausland“ – man weiß noch nicht einmal genau, ob es dieses bezeichnete Theater überhaupt gibt. Es könnte auch eine Stadthalle in Bad Rippoldsau sein – dem pittoresken und verschlafenen Kurort im Schwarzwald wo Lotz aufgewachsen ist. Wer weiß?

Wolfram Lotz und Hannes Becker © Michaela Frey

Wolfram Lotz und Hannes Becker © Michaela Frey

Lotz spielt mit der Fiktion, die sich immer wieder in unser Verständnis von Realität und Wirklichkeit verschiebt. Es ist im Grunde völlig unerheblich wo dieses Gebäude steht – es kann überall und nirgends sein. Es ist eine Versuchsanordnung in der sich Forderungen an den Theaterbetrieb konkretisieren. Er zeichnet einen Gegenentwurf zum hierarchisierten Theatersystem/ eine Utopie eines Theaters in dem der Text permanent von allen, durch alle, mit allen verhandelt und erweitert wird: von den KassiererInnen, über die TechnikerInnen bis hin zu den IntendantInnen. Der Probenprozess und die Beschäftigung mit dem Text sind nicht mit der Premiere beendet. Vielmehr beschäftigt sich das Ensemble und das Publikum immer weiter, immer wieder mit der Textgrundlade und führt die Auseinandersetzung des Werkes im Theater fort. Das erinnert stark an die Betriebsstrukturfantasien der Schaubühne am Hallschen Ufer von anno dazumal. Mitspracherecht für alle! Gemeinsame künstlerische Teilhabe! Es wäre zu schön um wahr zu sein.

Theater im Text – Text im Theater – Text in der Literatur – Literatur im Text

„Der Ort des Theatertextes scheint nur das Theater zu sein. Was passiert mit dem Text wenn man ihn woanders zeigt?“, fragt Carolin Beutel. Zusammen mit dem Autor Thomas Köck hat die Literaturveranstalterin das Symposium organisiert und kuratiert. Beide sind Ende zwanzig, aufgeschlossen und sprechen eindringlich über eine neue potenzielle Verortung der Gegenwartsdramatik, die weit über ominöse Probebühnen und Box-Spielstätten hinaus rezipiert werden sollen. In einem siebenstündigen Gespräch mit den AutorInnen erarbeiteten sie einen Fragenkatalog. Diese Sammlung aus offenen Fragen, Forderungen und Situationsbeschreibungen wurde als Anlass genommen, die AutorInnen an drei Abenden unter unterschiedlichen Themenschwerpunkten zu Wort kommen zu lassen. Sie befassten sich mit der Rolle des Textes im Theaterbetrieb, der Verortung der AutorInnen zwischen literarischen und theatralen Gattungsgrenzen und der Frage wie man Prosa und Dramatik miteinander verbinden und in Beziehung zueinander setzen kann. „Warum kommt Dramatik in Literaturhäusern eigentlich nicht mehr vor? Wir wollen über die Bedingungen von Dramatik und Theaterstücken sprechen. Und sie wieder in die Literatur zurückbringen, wo sie einmal verortet waren.“, konstatiert Köck.

Weder die Literaturwissenschaft noch die Theaterwissenschaft beschäftigt sich eingehend mit der aktuellen Gegenwartsdramatik. Im Gegensatz zu Romanen, Erzählungen, Novellen etc., welche vielfach adaptiert und rezipiert werden, wird sich mit dem Theatertext außerhalb seines ‚Leitmediums’ Theater nur am Rande auseinandergesetzt. Hannes Becker: „Der Roman ist ein Repräsentationsobjekt. Ihm wird eine Realität zugesprochen weil er aus dem Literatursystem heraus entstammt. Während der Theatertext bereits im Theater verhaftet ist und der eigenen Realität des Theaters entspricht. Es gibt keinen eigenen Ort für den Theatertext.“ Das Stattfinden des Symposiums im Literaturhaus ist vielleicht ein erster Anfang einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit dem Theatertext als – und das ist und war sie schon immer – literarische Form.

Lecture-Performamce mit Lotz und Köck Wolfram Lotz und Hannes Becker © Michaela Frey

Lecture-Performamce mit Lotz und Köck Wolfram Lotz und Hannes Becker © Michaela Frey

Auftritt: Hannes Becker/ Wolfram Lotz – „Die Hand vom Intendant, die Band vom Inspizient“

RealFiktionen beschränkt sich in ihren Themen jedoch nicht ausschließlich auf die Grundsatzdebatte um die Anerkennung der Gegenwartsdramatik im literarischen Rezeptionskanon. Ein wesentlicher Schwerpunkt ist auch das szenische und textliche Verhandeln der ‚Wirklichkeit’ bzw. Realitätsebenen im künstlerischen und marktwirtschaftlichen Theaterraum: In ihrer Lecture-Performance reflektieren Hannes Becker und Wolfram Lotz den Umgang des Theaterbetriebs mit dem Theatertext. DER TEXT MUSS DEM THEATER FORDERND GEGENÜBERSTEHEN! Dieser Imperativ durchwirkte die gesamte Präsentation. In 27 Forderungen an das Theater, das sie manifesthaft zu Beginn vorgetragen haben, heißt es in Forderung Nr. 25: „Theaterstücke sind lediglich der Beginn der gemeinsamen Auseinandersetzung, aber das ist sehr viel mehr, als wir denken.“ Ein Theaterstück fordert dazu auf, die „innere“ und „äußere Wirklichkeit“ – die Realität des Theatersystems als solche und die Wirklichkeit „da draußen“ – die gesellschaftlichen Umbrüche und Unmöglichkeiten unserer Gegenwart zu reflektieren.

Wir, als LeserIn und ZuschauerIn sind aufgefordert, uns nicht nur mit den Inhalten des Textes auseinanderzusetzen, sondern auch mit den Produktionsbedingungen im Theater: „Wenn es um etwas geht, was die Gesellschaft meint, dann kann es meines Erachtens nach nicht egal sein durch welchen Apparat es hindurchgeht“, sagt Wolfram Lotz in einem gemeinsamen Gespräch. Das, was zwischen dem Zuschauerraum und dem Text auf der Bühne des Theaters entsteht ist ein Produkt der Arbeitsbedingungen und strukturellen Eigenheiten des Theatersystems (z.B. ihre hierarchische Ordnung und marktwirtschaftliche Durchdringung, welche den Produktionsprozess eines Theatertextes wesentlich beeinflusst) und sollte stets von der Autorin oder dem Autoren berücksichtigt und mitgedacht werden. Das Publikum muss mit den Eigenheiten und Grundbedingungen des Theaters konfrontiert werden.

Die lächerliche Unmöglichkeit

Das Hörspiel „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz steht  paradigmatisch für diese konstante Selbstreflexion, die allerdings nicht in ein Ohnmachtsgefühl kippt, sondern den direkten Gegenweg einschlägt – eine radikale Fiktionalisierung einer äußeren Wirklichkeit, die uns nur vermittelt wird bzw. medialisiert ist und nie direkt erfahrbar gemacht werden kann. Lotz’ Text umfasst ein breites Spektrum an gesellschaftlichen Fragestellungen. Er hinterfragt den eurozentristischen Blick der Westeuropäer auf Krisengebiete wie den Nahen Osten, indem er sich medial vermittelter Bilder bedient. Diese Bilder der unzugänglichen „Fremde“, die sich in unser kollektives Gedächtnis eingespeist haben und nun unreflektiert durch unsere Synapsen wabern werden von Lotz verfremdet, ausgestellt, überhöht und schlussendlich durch eine absurd-groteske Überzeichnungen seziert. Die Protagonisten des Stückes fahren mit einem Boot über den Hindukusch und durch die Regenwälder Afghanistans. In diesem Fiktionskosmos trifft man nicht selten auf somalische Piratenschulen und monologisierende Papageien.

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Die Unmöglichkeit die Realität sowohl ästhetisch, künstlerisch zu reflektieren und erfahrbar zu machen, sollte stets aufgezeigt werden im Theatertext. Das Publikum wird somit sensibilisiert für die Scheinhaftigkeit eines Mediums. Diese Sensibilisierung versuchen Lotz und Becker durch eine Aneinanderreihung von ‚Unmöglichkeiten‘ – physikalisch nicht realisierbare Anforderungen des Textes an die Inszenierung zu erreichen. Durch die Reibung von Unmöglichkeiten mit der konkreten Bühnensituation entsteht eine reflexive Dynamik zwischen Regie und AutorInnenschaft.
Das „Ungenügen der Wirklichkeit“, so Becker, muss sich auch auf der Theaterbühne widerspiegeln in einer Kollision zwischen Theater und Text. Der Text reiht Unmögliches auf und das Theater versucht durch die ihm gegebenen Mittel und Wege den Forderungen des Textes gerecht zu werden. Das Theater reflektiert somit die eigenen Ausdrucksformen und setzt sie mit dem Text in Verbindung. Er fährt fort: „Wir fordern diese Kollision, da geht es darum, aus welcher Haltung heraus wir diese Kollision fordern. Es geht auch darum, eine Ohnmacht und so einen Kontrollverlust in die eigene Person einzubauen und nicht in so einer bürgerlichen Herrschaftsgeste, die sich eben auch mit dem Literarischen verbindet. Man muss diesen Widerstand aus einer Haltung der Machtlosigkeit – selbst wenn sie imaginiert ist – lesen. Die Positionierung des Textes gegenüber dem Theater kann auch aus einer Position der Machtlosigkeit imaginiert werden, die aber trotzdem eine fordernde Position ist. Sie reicht tiefer in die Wirklichkeit des Theaters und aller Wirklichkeiten, die damit in Verbindung gebracht werden hinein.

Theatertexte können und müssen den Theaterbetriebe stets hinterfragen und laut Forderungen stellen an die Bühnen. Soviel haben Becker und Lotz verdeutlicht. Das unmögliche Theater reflektiert und zeigt die innere wie auch äußere Realität auf. RealFiktionen fächert das Themenspektrum Theatertext weit auf, verortet und verhandelt dramatische Literatur immer wieder neu.

 

Mehr Informationen:
RealFiktionen – Symposium für den zeitgenössischen Theatertext.

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Oliver Franke

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