Mit „Stolpersteine Staatstheater“ haben sich Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura der Geschichte des Badischen Staatstheaters Karlsruhe im Nationalsozialismus angenommen. Die Zuschauer*innen werden dabei zum gemeinsamen Aktenstudium mit den Spieler*innen gebeten. Unser Autor traf sich mit dem Regieteam, sah sich die Aufführung an und stellte anschließend die K(unst)-Frage. Er fand: Der Inhalt siegt.
Als ich mir aus dem Potpourri der Inszenierungen des diesjährigen Theatertreffens das Stück „Stolpersteine Staatstheater“ von Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura zur Berichterstattung aussuchte, hatte ich vor allem eine Betrachtung ihrer dokumentarischen Theatermethode im Sinn, die sie mittlerweile seit über 20 Jahren gemeinsam entwickeln. Dass mein Vorhaben aber so einfach nicht umzusetzen war, kann sicherlich als Verdienst dieser Produktion verstanden werden. Denn was hier unbestreitbar gelingt, ist das Hervortreten der Sache selbst durch ihre theatrale Präsentation hindurch. Der Inhalt siegt – und infiziert folglich jeden Gedanken über die Machart des Stücks.
Das Badische Staatstheater Karlsruhe hatte Kroesinger und Dura zum 300. Stadtgeburtstag gebeten, sich mit dessen eigenem Verdrängten auseinanderzusetzen: dem Haus in der Zeit des Nationalsozialismus. Denn wie alle anderen Institutionen begannen auch die deutschen Theater unmittelbar nach der Machtergreifung durch die NSDAP am 30. Januar 1933 mit der Gleichschaltung. Die Angestellten sämtlicher Positionen, von Intendanz und Verwaltung über technische Gewerke und Ausstattung bis hin zum Schauspiel- und Musikerensemble, wurden überprüft und sich ihrer im Falle unliebsamer Abstammung oder Parteizugehörigkeit schnellstmöglich entledigt. Was die Aufarbeitung dieses Kapitels der Theaterhistorie angeht, liegen sicherlich deutschlandweit noch einige Leichen im Keller. Karlsruhe hatte bereits zuvor einen zaghaften Versuch der Bergung unternommen und vor dem Theatergebäude zwei „Stolpersteine“ von dem Künstler Gunter Demnig verlegen lassen, die an die im Konzentrationslager ermordete jüdische Sängerin Lilly Jank sowie den in den Suizid getriebenen Schauspieler Paul Gemmecke erinnern. Mit diesem Stückauftrag aber wollte man mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte noch einen Schritt weiter gehen.
Prall gefüllte Aktenwagen
Im Interview berichten mir Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura von den beiden prall gefüllten Aktenwagen, die sie für diese Aufgabe gemeinsam mit Dramaturgin Annalena Schott aus den Archiven der Stadt zusammengesucht und zu großen Teilen gemeinsam mit den vier am Projekt beteiligten Schauspielern gelesen haben. Es sind diese Materialien, aus denen sich der Text für „Stolpersteine Staatstheater“ speist: Zeitungsartikel, Personalakten, Programmhefte, Propagandatexte, amtliche Verordnungen, Briefwechsel. Auf Glättung, Vereinfachung oder Umformulierung der Originaldokumente wird dabei bewusst verzichtet. Sie sollen vielmehr in ihrer Sperrigkeit „Ausschnitte bleiben“ und „Lücken lassen“ können. Man wolle das Material transparent machen und „nicht eintheatern“, wie Kroesinger sagt. Ein „Überwältigungstheater“ oder gar ein „Theater des Einverständnisses“, das harmonischen Gleichklang im Zuschauerraum erzeugt, liege gerade nicht in ihrem Interesse.
Das klingt nach Brecht. Und in der Tat glotzt im Bühnenraum kaum etwas romantisch. Zentral aufgebaut befindet sich ein großes Tischkonstrukt, das verdächtig nach einem halben Hakenkreuz aussieht und um das herum zahlreiche Hocker gruppiert stehen. Nachdem die Zuschauer von Veronika Bachfischer, Antonia Mohr, Jonathan Bruckmeier und Gunnar Schmidt mit einem vierstimmigen Volkslied und einem nationalsozialistischen Aufruf zum Kampf für eine arische Kunst begrüßt wurden, bittet man sie an ihre Plätze, die sich je nach Wahl entweder am Riesentisch oder an einer der beiden Tribünenseiten befinden. Man kann also entscheiden, ob man gemeinsam mit den Schauspielern mitten im Geschehen sein möchte oder lieber eine stärkere Außenperspektive einnehmen will.
Die duldsame zweite Reihe
Das Dokumentenstudium selbst erweist sich sodann auch als die Grundsituation der Inszenierung. An den beiden Kopf- und Längsseiten sitzen Bachfischer, Mohr, Bruckmeier und Schmidt jeweils an ihrem zugeteilten Fetzen Tischplatte – und lesen aus Unterlagen vor. Freilich wird das aufgepeppt durch gelegentliches Deklamieren, vermeintlich beiläufiges Nachfragen untereinander und nicht zuletzt durch weitere mehrstimmige Gesänge – auch von Couplets damals beliebter, jedoch als „entartet“ verbotener Operetten. Die Zuordnung der Sprecherpositionen fließt gekonnt zwischen den Akteuren hin und her, wobei jede_r der Vier eine Art verbindliche Patenschaft für eine konkrete Person übernimmt. Neben den bereits genannten Lilly Jank und Paul Gemmecke sind das der jüdische Schauspieler Hermann Brand sowie die jüdische Souffleuse Emma Grandeit. Sie sind, wenn man so will, die Hauptfiguren von „Stolpersteine Staatstheater“. Alle Vier waren zum Zeitpunkt von Hitlers Machtergreifung am damals noch „Badisches Landestheater Karlsruhe“ genannten Dreispartenhaus sowohl künstlerisch wie menschlich hoch geschätzte Kollegen. Das nützte ihnen jedoch wenig, als die Weisung eintraf, sie spätestens bis zur nächsten Spielzeit abzuservieren.
Der Befund für das Verhalten der Theaterhäuser in der Nazi-Zeit fällt nicht zuletzt darum vernichtend aus. Sie erweisen sich am Beispiel Karlsruhe als genauso opportunistisch wie die meisten anderen Institutionen im Jahre 1933 auch. Zudem wird einmal mehr deutlich, dass der personelle Kahlschlag, den die Nationalsozialisten unmittelbar nach der Machtergreifung durch die Entfernung zahlreicher jüdischer und regimekritischer Personen aus dem Berufsleben herbeiführten, nicht zuletzt eine große Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die zweite und dritte Reihe war, die ihren so erlangten sozialen Aufstieg gern in Empfang nahm und dafür letztlich auch bereit war, über schreiendes Unrecht gegenüber langjährigen Weggefährten hinwegzusehen.
Gestern und Heute
Die Präsentationsweise der montierten Fragmente ist gerade in ihrer Schlichtheit bestechend. Sie wirkt, ganz simpel gesagt, erschütternd und spannend zugleich. In großer Sachlichkeit und angenehm uneitel breiten die vier Schauspieler_innen die zerrüttete Geschichte ihres eigenen Arbeitsplatzes aus. Und es ist eine interessante Grundspannung, den vier Akteuren dabei zuzusehen, wie sie sich ihren eigenen Vor-Vorgängern am Haus stellen und dabei historische Distanz und Empathie zugleich erkennen lassen. Problematisch wird es jedoch, wenn der Nazi-Jargon aus den Briefen und Verordnungen mit so viel Engagement rezitiert wird, dass sich eine verdächtige Identifikation zwischen Sprecher und Gesprochenem auftut, die in einigen Momenten gar ins Schwelgen abzudriften droht. Auch dramaturgisch macht der Abend vielleicht den einen oder anderen Kompromiss zu viel, um konsumierbar zu bleiben. Dann kippt er in ein etwas süffiges Dokumentarfilmtimbre und verliert seine Konsistenz.
Insgesamt aber ist die Performance äußerst klug gebaut. Für das letzte Viertel des Stücks wechselt das Publikum ein weiteres (und noch nicht letztes) Mal die Position sowie den Blickwinkel und findet sich in einer klassischen Frontalsituation ein. Hier berichten Bachfischer, Mohr, Bruckmeier und Schmidt von ihren persönlichen Erlebnissen im Karlsruhe der Gegenwart, wo rechtsextreme Aufmärsche und eine national-populistische Partei seit gut einem Jahr wieder zum Stadtbild gehören. Und spätestens als ich hier mit dem Holzhammer darauf gestoßen werde, wie ähnlich sich eben nicht nur die Rhetorik und Feindbildkonstruktionen, sondern auch die historischen Rahmenbedingungen von 1933 und 2016 sind, wird in mir eine Beunruhigung manifest, die in der soeben erlebten Rückschau die Fratze einer dystopischen Prognose erkennt.
kunst
Ich frage Hans-Werner Kroesinger, wie er eigentlich die Theatersituation ganz allgemein versteht. In erster Linie, sagt er, sei das Theater für ihn ein Raum, um sich auf Dinge konzentrieren zu können. Und da in seinen Arbeiten die Recherchematerialien direkt präsent sind, könne man sich auch in eine unmittelbare Auseinandersetzung mit ihnen begeben. Man komme ihnen nahe und das gäbe es sonst nicht oft.
Ähnlich interpretiert er auch meine Nachfrage, was in seinen Augen eine ästhetische Setzung ausmacht. Das Herstellen von Situationen, in denen eine spezielle Wahrnehmung oder eine besondere Aufmerksamkeit erzeugt wird, sei eine ästhetische Setzung.
In beiden Antworten schwingt Trotz mit – vermutlich aufgrund bereits mehrfach gehörter Vorwürfe, dieses Dokumentartheater wäre zu wenig „Kunst“ mit großem K. Und in der Tat: mit Emphase, Magie und Bezauberung, ja selbst mit ausgreifender spielerischer Verwendung der Mittel und Elemente hat dieses Theater nicht viel am Hut. Wenn sich das Programm aber auf so sinnfällige, komplexe und aufrührende Weise einlöst wie bei „Stolpersteine Staatstheater“ wird deutlich, worin gerade der Reiz und die Dringlichkeit dieser Kunst liegen kann.
Stolpersteine Staatstheater
Dokumentartheater von Hans-Werner Kroesinger.
Textfassung: Regine Dura.
Regie: Hans-Werner Kroesinger, Künstlerische Mitarbeit: Regine Dura, Bühne/Kostüme/Video: Rob Moonen, Musik: Daniel Dorsch, Dramaturgie: Annalena Schott, Theaterpädagogik: Verena Lany.
Mit: Veronika Bachfischer, Antonia Mohr, Jonathan Bruckmeier, Gunnar Schmidt.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause.