Die nackten (8) Zahlen

Die Kritiker-Jury hat getagt und die zehn bemerkenswertesten Produktionen des Jahres identifiziert, dafür wurden laut Statistik 428 Inszenierungen in 66 Städten angesehen. Vielleicht hat man als Zuschauer ein oder zwei der Stücke gesehen, zu den restlichen Produktionen kann man die Kurzbegründungen lesen – aber welcher richtige Theaterfan möchte sich damit abspeisen lassen? Man muss doch mitreden können!
Es gibt nun zwei ziemlich zeitraubende Methoden, um sich den eingeladenen Inszenierungen zu nähern: Entweder, man schaut sich vorher alle Inszenierungen an, um dann beim TT genau zu wissen, welches man sich anschauen möchte – oder man liest die Kritiken. Das sind allerdings ziemlich viele: Die online verfügbaren Rezensionen zu den zehn eingeladenen Produktionen sind insgesamt 40.563 Wörter oder 277.025 Zeichen lang, das wären ungefähr 150 Buchseiten. Würde man die verwendeten Buchstaben in Schriftgröße 12,5 Punkt aufeinanderstapeln, könnte man damit bis auf den Mond klettern, ungefähr.
Das wollen wir Ihnen ersparen und bieten einen einmaligen Service: eine statistische Wort-Auswertung aller Kritiken zu den eingeladenen Stücken. Los geht’s!


Das Wichtigste zuerst: Bemerkenswert, dass das vielbesungene Attribut „bemerkenswert“ in sämtlichen Kritiken nur ein (!) Mal bemüht wird. Das sind nur 0,0024 % aller in den Kritiken verwendeten Wörter! Wenn also dieses „bemerkenswert“ ein artifizieller (6) Sammelpool für all das sein soll, was ein TT-Stück ausmacht, dann lohnt sich diese objektive Statistik doppelt – jetzt werden wir herausfinden, was eine Produktion befähigt, von der Kritiker-Jury als solche ausgewählt zu werden (Sie merken schon: Das wird jetzt so ein bisschen wie das Statistikfachsimpeln der Kommentatoren bei einem Fußballspiel).
Worum geht’s dieses Jahr ungefähr ?
Nach einem ersten Blick auf unsere Kritik-Cloud, können Sie beruhigt aufatmen: Gut zu wissen, dass das Theatertreffen auch dieses Jahr wieder die ganz großen Themen beackern wird: Leben (50), Liebe (36), Welt (34), Zeit (33), Mensch (30), Freiheit (16), Tod (15) – alles dabei.
Ein kurzer Überblick über die zweithäufigsten Diskurse (12): Der Kapitalismus kommt auf 19 Nennungen, der Kommunismus nur auf enttäuschende 3 – dieses Rennen scheint entschieden. Glaubt man den Kritikern, tobt auf dem TT auch zwischen Gott (4) und dem Teufel (12) ein ungleicher Kampf – zumal Letzterer noch Hexen (12), Geister und Gespenster (je 10),  Mörder (4) und Kakerlaken (2) mitgebracht hat. Schockierend auch, dass der guten Seite die Helden (3) ausgehen – kein Wunder, dass es auch nur eine entsprechend magere Anzahl an Konflikten gibt (3). Postmodern (3) wird das TT also, vor allem aber postdramatisch (10)!
Natürlich sind auch Geschlecht (9) und Gender (4) ein Thema: Menschen kommen auf 25 Erwähnungen, die Frau auf 24 und der Mann auf 22. Allerdings toppt „er“ (419) „sie“ (284) deutlich. Wir stellen uns also auf 60% Männer und 40% Frauen auf der Bühne ein – außerdem auf Kinder (25).

Bedenklich: Die Welt (34) wird ebenso häufig erwähnt wie das Ende (34) – hoffentlich kein schlechtes Omen im Jahr 2012. Wir konzentrieren uns beim TT also besser auf das Heute (21) und das Hier (68) und Jetzt (42). Passend zu dieser Gegenwartsfixierung: Momente (8) und Augenblicke (4) scheinen wichtiger zu sein als der Gesamteindruck (1). Nicht nur in Fausts Studierzimmer.
Harte Fakten zur Ästhetik (8)
Angesichts der Häufigkeit  von Naturalismus (7) und Re-Enactment (10), überrascht es, dass die Dekonstruktion (7) häufiger zu beobachten sein wird als die Rekonstruktion (4). Und: Historisch (13) muss es sein!
Im Gegensatz dazu: Film (5) und Video (11) dürfen nicht fehlen – bei so häufiger Nennung sollte eigentlich in allen Stücken multimedialer Schnickschnack eine Rolle spielen (außer vielleicht bei Hermanis…). Man passt sich allgemein den neuen Medien (10) an, die Stücke sind wie Netzwerke (18), es wird kreuz und quer zitiert werden (15). Musik (21) wird es auch reichlich geben, und zwar laut (12)!
Die Lieblingsfloskel der Kritiker (abgesehen von bemerkenswert), die Versuchsanordnung (2), kommt bei diesem TT etwas kurz, das Experiment (5) wird schon öfter bemüht, gar von Performance (13) wird gemunkelt. Tja, und dann wird es natürlich körperlich (16), blutig (20), brutal (5).
Noch kurz zum Bühnenbild: Bretter (4) werden Verwendung finden. Von denjenigen zu sprechen, die die Welt bedeuten, traute sich aber glücklicherweise nur ein Kritiker.
La Grande Nation am Boden!
Aus aktuellem EM-Anlass (und wir sind ja eh schon im Fußball-Statistik-Sprech): Wer macht es in der Nationenwertung? Klar, beim TT geht es um deutschsprachige Produktionen, aber das Beharren der Kritiker auf Deutschland (25) wirkt schon etwas eigentümlich. Damit holen „wir“ jedenfalls den Pott vor den Russen (20). Überraschend auf den vorderen Rängen: die Norweger (12), dicht gefolgt von den Engländern (8) und den Briten (4). Abgeschlagen auf dem letzten Platz: die Franzosen (1) – aus Mitleid möchte man der großen Theaternation den „Franz“ (10) durchgehen lassen und sie wie gewohnt vorne mitspielen sehen (siehe Grafik).

In Abwesenheit glänzen
Leider werden jedes Jahr nur 10 Stücke für das TT ausgewählt – die meisten Theaterschaffenden müssen vor den Toren der Festspiele darben. Einige haben sich aber trotzdem hineingemogelt. Tausendsassa Brecht schafft es, insgesamt 18 Mal genannt zu werden, davon allerdings 15 Mal in den Pollesch-Kritiken. Doch selbst wenn man das berücksichtigt, führt er knapp vor Beckett die Hitliste der in Abwesenheit anwesenden Schriftsteller an. Foucault holt sich den ersten Platz in der Philosophen-Hitliste vor Adorno, Sartre, Freud und Žižek. Man möge uns die jetzt folgende Verkürzung verzeihen – aber in der Rangliste der grob den Philosophen beigestellten Begriffe verschiebt sich das Bild eindeutig: Freiheit (48), Sex (18), Diskurs (12) und Dialektik (9)… naja, bei Žižek kann man das nicht so genau sagen, der schreibt eh über alles (43). Selbst Hamlet tritt ganze drei Mal auf (frech!), Marthaler schmuggelt sich als meistgenannter Regisseur ebenfalls ins diesjährige TT hinein.

Bemerkenswertes Fazit (4)
Verwirrt? Alles nichtssagend? Egal, was die Kritiker geschrieben haben, wer wie viele (Eigen-)Tore in der jeweiligen Begegnung geschossen hat oder die meisten Kilometer auf dem Bolzplatz der Theateröffentlichkeit Deutschlands gemacht hat: Das Theatertreffen wird mit den eingeladenen Stücken garantiert grandios (18), perfekt (10), berührend (10) – ob es denn auch bemerkenswert (1) wird, das müssen Sie selbst herausfinden.

P.S. 1: So, jetzt ist mal Schluss mit der Statistik – mit diesen Zahlen in Klammern hinter Wörtern fühlt man sich schon fast wie in der Bildzeitung, und so will man ja auch nicht enden.
P.S. 2: Oben wurde gnadenlos aussortiert, das Niveau nivelliert und die herrlichsten Stilblüten des Feuilletons, die Darlings eben, gekillt. Jetzt ist es im Umkehrschluss Zeit für die großen Wörter, dog-eat-dog, wer hat den längsten: Das Kritiker-Wort mit den meisten Buchstaben gewinnt, es lebe die 1-Wort-Kritik!
Kill Your Darlings!: Lebensabschnittspartnerschaften (31)
John Gabriel Borkman: Gleichförmigkeitsdramaturgie (28)
Faust I & II: Welterschaffungsperformance (27)
Die [s]panische Fliege: Wohlstandsindividualismus (25)
Gesäubert / Gier / 4.48 Psychose: Erinnerungsfetzenquartett (25)
Platonov: Lehramtsstudienabbrecher (24)
Macbeth: Kriegstraumatisierungen (23)
Before Your Very Eyes: Gemeinschaftsproduktion (23)
Hate Radio: Bürgerkriegsschlachten (22)
Ein Volksfeind: Einzelschicksalsstück (21)
Passt doch ungefähr, oder?

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Karl Wolfgang Flender

Karl Wolfgang Flender, 1986 in Bielefeld geboren, studiert „Literarisches Schreiben" an der Universität Hildesheim. Preisträger beim fm4-Literaturwettbewerb 2011, Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Hat am Forum Junger Theaterkritiker der Wiesbadener Biennale „Neue Stücke aus Europa" 2010 teilgenommen und war Chefredakteur von Festivalzeitung und -blog beim 100°-Festival 2011 am HAU Berlin.

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