Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt

Doppelkritik zur Eröffnungspremiere: Bei Karin Beier liegt eine ganze Kultur auf dem szenischen Seziertisch.

Unter dem Motto „Wieso ist das deutschsprachige Theater eigentlich immer noch so interessant?“ eröffnete Thomas Oberender am 6.5.2016 das 53. Theatertreffen im Haus der Berliner Festspiele mit einer lakonisch vorgetragenen Rede zur kuratierenden Funktion des Theatertreffens. Kulturstaatsministerin Monika Grütters sprach in Reaktion darauf von der Notwendigkeit der Bewahrung theatraler Vielfalt in einer pluralistischen Zeit. Im Anschluss eröffnete Karin Beiers „Schiff der Träume“ das Festival. Unsere AutorInnen Theresa Thomasberger und Falk Rößler haben zu dem kontroversen Stück zwei Texte verfasst. Es geht los.

Als nach der Eröffnungsaufführung des diesjährigen Theatertreffens mit „Schiff der Träume“ die Festivalleiterin Yvonne Büdenhölzer das Wort zur Ehrung ergriff, sprach sie nochmals explizit aus, was man den dreieinhalb Stunden zuvor bereits deutlich anmerken konnte: Dass es ihr ein Anliegen war, das Theatertreffen 2016 mit einem starken gesellschaftspolitischen Statement zu beginnen.
Diesem Auftrag stellt sich die theatrale Adaption des gleichnamigen Films von Federico Fellini, die im Dezember 2015 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg in der Regie von Karin Beier Premiere hatte, mit breiter Brust, erfreulichem Übermut und der Bereitschaft zur Überschreitung stadttheatertypischer Genrekonventionen.

100 Jahre später

Aus Fellinis Narrativ eines Ozeandampfers, der am Vorabend des ersten Weltkriegs mit eingeäscherter Operndiva und einem skurrilen Who is Who der klassischen Musikszene zur Seebestattung aufbricht, wird in der Bearbeitung von Beier und ihrem Dramaturgenteam Stefanie Carp und Christian Tschirner ein deutsches Orchester, welches das Oberdeck eines Kreuzfahrtschiffs mietet, um seinem verstorbenen Dirigenten in der mitgeführten Urne die letzte Ehre zu erweisen.
Der vierzehnköpfige Klangkörper wird von zehn Schauspielern und vier Musikern gegeben, die sich in einer stimmungsvollen Klangpartitur am Anfang der Inszenierung zunächst sehr einheitlich präsentieren, bevor sich ihre Aufgabenfelder auftrennen. Während Ruben Jeyasundaram, Michael Leuschner, Maurice Mustatea und Yuko Suzuki in der Folge die Bühnenmusik des musikalischen Leiters Jörg Gollasch live mit Cello, Trompete, Violine und Schlagwerk interpretieren, extemporiert das Schauspielensemble nun die Persiflage einer von der üblichen Mischung aus Eitelkeiten und Solidarität gezeichneten Orchestertruppe. Mit an Bord befinden sich ein militant-überfreundlicher Chefstuart (Jan-Peter Kampwirth) sowie seine notorisch Minderbemitteltheit zur Schau stellende Servicekraft (Lina Beckmann).

Europäischer Totengesang

Karin Beier macht mit dieser Personnage nun genau das, was in ihrer Zusammenstellung angelegt ist: Sie schleift sie durch einen parodistischen Leerlauf sowohl des westlich-bürgerlichen Kulturbetriebs als auch des armseligen Luxusverständnisses von Kreuzfahrtteilnehmern. Beides steht in Kombination wohl oder übel stellvertretend für den kapitalistischen Westen an sich, weshalb das Schiff auch den überdeutlichen Namen „CS Europa“ trägt. Die Klischee- und Klamaukparade, die sich nun elegisch im gleichsam überpräsenten und doch zurückhaltenden Einheitsbühnenbild von Johannes Schütz abspielt, wirkt durchaus bewusst gesetzt. Wenn die Akteure nicht gerade schwadronierend an mehreren über die Bühne verteilten Lokaltischen sitzen, dann stehen oder liegen sie in einer Art übergroßem beweglichen IKEA-Expedit-Regal mit zwölf quadratischen Kajüten, die den verheißungsvollen Luxusdampfer zu einem Vehikel totaler Baukastenuniformität zurechtstutzen. Dabei führen die Passagiere fruchtlose Diskussionen über ihren verstorbenen Dirigenten, ihre eigene Rolle im Orchester sowie Kunst und Tod im Allgemeinen. Auf die Spitze getrieben wird die berechenbare Lethargie dieses Dampfers, wenn in der regressiven Stille der schlaflosen Nacht noch die letzten Unvermeidlichkeiten ausgespielt werden – vom abgeschmackten sexuellen Abenteuer über den obligatorischen Gewaltausbruch bis hin zum nutzlos aufgebauten Mitternachtsbuffet als Symbol westlicher Dekadenz. Eine ästhetische Überformung dieser resignativen Situation findet erst statt, wenn Spezialschlagwerker Cornelius von Ochs (Josef Ostendorf) im pinken Kleid Christina Aguileras „Beautiful“ anstimmt und dabei große Ballonfische den Bühnenraum durchqueren. Spätestens hier befindet sich eine ganze Kultur auf dem szenischen Obduktionstisch. Der Tote, der hier besungen wird, ist aber weniger der verstorbene Dirigent Wolfgang, dessen Asche mittlerweile auf den Boden zerclownt wurde, sondern vielmehr eben jenes Europa, dessen Namen das stoisch weiter fahrende Schiff trägt.

Der Einbruch des Anderen

Und hier hierein schlägt dann: das Fremde. Fünf zentralafrikanische Männer (Gotta Depri, Patrick Joseph, Ibrahimo Saogo, Michael Sengazi, Sayouba Sigué) werden auf ihrer Flucht über das Mittelmehr vorm Ertrinken gerettet und auf das Oberdeck gebracht. Die eben begonnene Begräbniszeremonie für Wolfgang muss unterbrochen und sogar aufs Unterdeck verlegt werden, denn die Geflüchteten geben den Raum nicht mehr her. Das gilt im Doppelsinn auch für die Bühne. Wo sich bislang der westliche Leerlauf theatral in einer Art Post-Endspiel breit machen durfte, findet nun eine der dramatischen Repräsentation weitestgehend entzogene Lecture oder Konferenz statt, in der die unverhofften afrikanischen Passagiere sarkastische Versprechen („Wir kommen, um euch zu helfen.“) mit provokanten Fragentiraden ans Publikum („Wie viele sichere Herkunftsländer gibt es in Afrika?“) und choreographischen Performances beispielsweise des Vorgangs des Ertrinkens kombinieren. Ihre Dynamik und zur Schau gestellte körperliche Fitness, die überdeutlich immer wieder mit animalischen Motiven in Verbindung gebracht werden, stehen dabei in starkem Kontrast zur zuvor wirkmächtigen Lethargie des europäischen Orchesters. Auch hier wird also einmal mehr auf Klischees gesetzt, so dass die Frage im Raum steht, ob man nicht anders wollte oder konnte.
Der Showdown beider Kulturen erfolgt schließlich als Tanz-Battle, an dessen Ende tatsächlich die Möglichkeit eines gemeinsam gefundenen dritten Weges zwischen beiden (wiederum durchweg klischierten) Bewegungsrepertoires steht. Zerschlagen wird dieser gleichsam kitschige wie utopische Moment von der gewaltsamen Verbringung der fünf Flüchtenden auf ein anderes Boot, das sie vermutlich wieder an der afrikanischen Küste absetzen wird. Das Spiel kann also aufs Neue beginnen.
Über diese ernüchternde Erkenntnis gerät dann auch das Riesen-Expedit-Regal in eine plötzliche Schieflage, was der sonst lange Zeit ungenutzt herumstehenden starken Bühnenbildsetzung noch einmal unverhoffte Kräfte entlockt.

Keine Angst. Ansprache!

Was Karin Beiers Inszenierung „Schiff der Träume“ nicht hat: Angst! Keine Angst vor der großen, ausschweifenden Form, keine Angst vor den vielen unterschiedlichen Akteuren, vor den Fallstricken der political correctness, der Größe des Themas, den sprachlichen Herausforderungen und vor allem nicht vor theatraler Hybridität. Der Abend versucht sich gleichermaßen an poetischen Bildern, klassisch-dramatischen Schauspielszenen, Neuer Musik, Gesang, Choreographie und einer ausschweifenden Lecture Performance. Das ist insgesamt beeindruckend, meist gut gearbeitet und von tollen Akteuren auf allen Ebenen getragen.
Was „Schiff der Träume“ allerdings auch nicht hat, ist ein letztendlich tragfähiger Entwurf, all die Ambitionen, Mittel und Darsteller auf eine neue ästhetische Ebene zu hieven. Dem Problem, wie sich eine irgendwie annehmbare Haltung Europas zur gegenwärtigen Kriegs- und Flüchtlingssituation finden ließe, wird hier mit viel Verve, Mut und begrüßenswerter Hybris begegnet. Allerdings mündet dieser Aufbruch nur teilweise auch in einer starken künstlerischen Setzung. Das bürgerliche Theater wird zwar glaubhaft ausgehöhlt und der Bühnenraum auf eine kluge Weise für das Andere buchstäblich freigeräumt, als Alternative scheint dann jedoch vor allem die rhythmisch und choreographisch aufgepeppte Ansprache auf. Die ist aber einerseits genauso problematisch codiert und vom imperialen Gestus durchsetzt wie das westliche Drama selbst und ist andererseits halt auch noch nicht per se Theater.
Zu diesem Problem aber muss eine Inszenierung erst einmal vordringen. Dafür ist in „Schiff der Träume“ ein langer Weg mit großer Konsequenz zurück gelegt worden. Zum Glück.

 

Schiff der Träume
Ein europäisches Requiem nach Federico Fellini
Textfassung: Karin Beier, Stefanie Carp, Christian Tschirner
Regie: Karin Beier, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz, Komposition und Musikalische Leitung: Jörg Gollasch, Choreographie 1. Teil: Valenti Rocamora i Tora, Choreographie 2. Teil: Gotta Depri, Sayouba Sigué, Licht: Annette ter Meulen, Video: Meika Dresenkamp, Dramaturgie: Stefanie Carp, Christian Tschirner.
Mit: Lina Beckmann, Gotta Depri, Yorck Dippe, Rosemary Hardy, Charly Hübner, Josefine Israel, Patrick Joseph, Jan-Peter Kampwirth, Josef Ostendorf, Sasha Rau, Ibrahima Sanogo, Michael Sengazi, Sayouba Sigué, Bettina Stucky, Kathrin Wehlisch, Julia Wieninger, Michael Wittenborn, Musiker: Ruben Jeyasundaram, Michael Leuschner, Maurice Mustatea, Yuko Suzuki.
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus.de

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Falk Rößler

Geboren 1983, studierte Europäische Medienwissenschaft in Potsdam und Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Dort u.a. Gründungsmitglied der Theatergruppe Die Resilentes gemeinsam mit Eleonora Herder & Arne Köhler. Seit 2011 bildet er zusammen mit Stephan Dorn & Nele Stuhler die Gruppe FUX, deren Arbeiten an zahlreichen Theatern und Festivals gezeigt wurden. Ihre aktuelle Produktion „FUX GEWINNT“ setzt sich mit Gewinn- und Glücksspielen auseinander. Darüber hinaus arbeitet Falk Rößler als Regisseur, Musiker, Performer und Publizist.

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