Man ist eben noch gar nicht tot, wenn man tot ist

Doppelkritik zur Eröffnungspremiere: Unsere Autorin sah einen letztlich beruhigenden Festivalauftakt.

Unter dem Motto „Wieso ist das deutschsprachige Theater eigentlich immer noch so interessant?“ eröffnete Thomas Oberender am 6.5.2016 das 53. Theatertreffen im Haus der Berliner Festspiele mit einer lakonisch vorgetragenen Rede zur kuratierenden Funktion des Theatertreffens. Kulturstaatsministerin Monika Grütters sprach in Reaktion darauf von der Notwendigkeit der Bewahrung theatraler Vielfalt in einer pluralistischen Zeit. Im Anschluss eröffnete Karin Beiers „Schiff der Träume“ das Festival. Unsere AutorInnen Falk Rößler und Theresa Thomasberger haben zu dem kontroversen Stück zwei Texte verfasst. Es geht los.

Es könnte so einfach sein: das 53. Theatertreffen eröffnet mit einem Stück über ein Schiff, das eine Metapher auf Europa ist und das von einer Schar Geflüchteter gekapert wird, die zufällig auch Performer sind und so in einem progressiven Rundumschlag nicht nur unser Konzept der europäischen Grenzpolitik, sondern auch das der Stadttheater-Dramatik in Frage stellt. Ist es aber nicht. Karin Beiers „Schiff der Träume“, eine Überschreibung des gleichnamigen Fellini-Films von 1983, ist ein seltsamer, melancholischer Abgesang auf einen Wiedergänger-Kontinent, der seinen Tod so sehr beweint, dass er fast wieder lebendig scheint. Und er ist unsterblich lustig.

„Und das Tot-Sein ist mühsam“

Im ersten Teil des gut dreistündigen Abends beobachten wir das skurrile Ensemble eines Orchesters, das in See gestochen ist um die Asche seines verstorbenen Maestros in der Ägäis zu verteilen. Dabei soll wunschgemäß dessen utopisches Hauptwerk „Human Rights Nr. IV“ aufgeführt werden. Die Figuren, die sich da mal mehr, mal weniger bekleidet, rauchend, trinkend und philosophierend an Deck tummeln, erinnern oft eher an Tschechow als an Fellini, zeugen aber in der trägen Dekadenz ihrer Herkunftslosigkeit von einem Europa, das sich nicht über seine nationalen Grenzen, sondern seine Kulturprodukte definiert. Es ist eine versnobte, verstaubte und verschrobene Gesellschaft, die da von der Mühsamkeit des vorweggenommen Todes singt, in einer Schleife gefangen ihre Depression zum Daseinsprinzip stilisiert und zur Konservierung Champagner trinkt – eine Gesellschaft, der man mit Lachen und mit Zärtlichkeit begegnet. Hier singt Josef Ostendorf in großer Ballrobe Christina Aguileras „You are beautiful“ unter einem Himmel voll fliegender Fische und Lina Beckmanns Servicekraft stottert das Carpaccio minutenlang zum Kaka-paccio. Am Beispiel des (batteriebetriebenen) Hummers muss mal wieder der Veganismus dran glauben und dann zerbricht auch noch die Urne und die Musiker stehen vor der Wahl, sich des zerstreuten Meister durch die Nase oder doch mithilfe eines Staubsaugers zu entledigen.

„Wir bringen Eurem Volkskörper ein paar neue Gene“

In diesem sorgsam choreographierten Noir-Klamauk ändert dann die Durchsage, das Schiff habe in der Nacht eine Gruppe in Seenot geratener Geflüchteter aufgenommen, nicht nur die Lichtstimmung. Ab nun regiert ein dumpfer Beat das Geschehen und das Orchester muss sich mit den Neuankömmlingen, die ihrerseits verkünden, sie seien gekommen, um Europa vor der Traurigkeit zu retten, um die Vorherrschaft auf dem Oberdeck streiten. Nach der Pause gibt’s dann einen Vortrag über die seltsamen Gewohnheiten der Deutschen in einer Art Stand-Up-Comedy-Diskurstheater inklusive Powerpoint und dem fast schon erwarteten Günther-Jauch-Jingle. Denn tatsächlich hat der Abend viel von einer Show, einem installativen Kabarett mit vielen Sketchen und direktem Publikumsadressat nah der Rampe, dahinter schön choreographierte Bilder im schwarz-weißen Setzkasten.

Domestizierung der Demütigung

Die Entscheidung, die Hamburger Inszenierung an den Beginn des Festivals zu setzten, ist natürlich politisch. Sie will einen Fokus setzten und den (festivalinternen, wie -externen) Diskurs befördern – aber inwieweit ist das Stück denn nun politisch? „Schiff der Träume“ trifft eine politische Aussage, und das ist seine Grundsetzung. Es ist insofern politisch, als es die Wirklichkeit, die auf der Bühne hergestellt wird, als die wirkliche Wirklichkeit behauptet. Der portraitierte Ausnahmezustand ist keine Möglichkeit, keine Sicht auf die Dinge, nicht einmal eine Theorie. Er ist auch kein Problem und keine Chance: er ist die Realität. Diese nimmt „Schiff der Träume“ als Ausgangssituation an – um dann nichts damit zu tun.
Die afrikanischen Performer (Gotta Depri, Patrick Joseph, Ibrahima Sanogos, Michael Sengazi, Sayouba Sigué), die in der Mitte des Stücks die Bühne weniger kapern als im gemütlichen Schlenderschritt betreten, sind nette, laute, gutaussehende, ermächtigte Intellektuelle in Sportklamotten. Sie sind diskurskundige Theatermacher, zwischen denen und dem europäischen Ensemble keine echte Begegnung stattfindet. Im szenischen Aufeinandertreffen der Charaktere werden kulturelle Differenzen zitiert und dann der Methodik der Inszenierung folgend in Gelächter aufgelöst. Das ist angenehm, schön, und für den Stadttheaterbesucher mit latentem Rechtsdrall möglicherweise angsthemmend. Auf eine radikale Konfrontation, die das theorieunterfütterte Inszenierungskonzept verspricht, wartet man vergebens – stattdessen findet, durch das klamaukige Andeuten echter Konflikte gewissermaßen eine Domestizierung der Demütigung statt. Wenn das Orchester erst die Servicekräfte und dann die Geflüchteten mit ihren Ressentiments und eurozentristischen Idealismen konfrontieren, ist im Text Brutalität zu verorten – auf der Bühne regiert aber weiter die Show.

Der Abend ist lang, lustig und über weite Strecken überraschend leise – er leistet genau was Lina Beckmann, die (nicht sehr) geheime Hauptprotagonistin des Abends, am Ende als das Programm der Inszenierung enthüllt: „Vielen Dank, das war’s erstmal mit unserem Integrationstraining Afrika-Deutschland.“ Das Stück ist die Probe einer gestörten Beerdigung. Es wird nicht, wie bei Fellini, der Untergang Europas verhandelt. Europa ist in Karin Beiers „Schiff der Träume“ überhaupt nicht wirklich bedroht. Die Besatzung ist um ein paar Mitglieder reicher geworden und das ist nicht immer leicht. Sie streiten sich ein bisschen, aber wir schaffen das. Insofern ein beruhigender Abend.

 

Schiff der Träume
Ein europäisches Requiem nach Federico Fellini
Textfassung: Karin Beier, Stefanie Carp, Christian Tschirner
Regie: Karin Beier, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz, Komposition und Musikalische Leitung: Jörg Gollasch, Choreographie 1. Teil: Valenti Rocamora i Tora, Choreographie 2. Teil: Gotta Depri, Sayouba Sigué, Licht: Annette ter Meulen, Video: Meika Dresenkamp, Dramaturgie: Stefanie Carp, Christian Tschirner.
Mit: Lina Beckmann, Gotta Depri, Yorck Dippe, Rosemary Hardy, Charly Hübner, Josefine Israel, Patrick Joseph, Jan-Peter Kampwirth, Josef Ostendorf, Sasha Rau, Ibrahima Sanogo, Michael Sengazi, Sayouba Sigué, Bettina Stucky, Kathrin Wehlisch, Julia Wieninger, Michael Wittenborn, Musiker: Ruben Jeyasundaram, Michael Leuschner, Maurice Mustatea, Yuko Suzuki.
Dauer: 3 Stunden 25 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus.de

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Theresa Thomasberger

Jahrgang 1992, Studium der Philosophie und Sprachkunst in Wien. Aufenthalt am Institut für Szenisches Schreiben an der UdK Berlin. Seit Herbst 2017 Studium der Theaterregie an der HfS "Ernst Busch". Theresa Thomasberger war Autorin beim Theatertreffen-Blog 2016.

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