„Ich bin ein Mensch, und so geht man nicht mit mir um.“ Ein Interview mit Constanze Becker

Medea sei nicht hysterisch, sondern durchdacht, sagt die Schauspielerin Constanze Becker über ihre Rolle in Michael Thalheimers Inszenierung der antiken Tragödie am Schauspiel Frankfurt. Gestern spielte sie die griechische Kindsmörderin in der Eröffnungspremiere des Theatertreffens (hier unsere Kritik), heute sprach Eva Biringer mit ihr im Festspielgarten.

Eva Biringer: Wer ist diese Medea?
Constanze Becker: Keine Ahnung.

EB: Wie fremd ist Ihnen diese Medea? Gibt es Punkte, wo Sie sich in ihr wiederfinden können?
CB: Ich kann im Ansatz alles nachvollziehen, sonst kann ich es ja nicht spielen. Ich glaube jeder von uns musste sich schon mit Eifersucht und Demütigung jeder Art befassen. Die Form, wozu es führt, das ist mir fremd. Aber das Analytische, was sie hat, ihre Denkschritte: Die verstehe ich gut.

EB: Ist Medea eine Feministin?
CB: Schwer zu sagen. Ich glaube, im Sinn des Feminismus, wie wir ihn heute sehen, darüber geht es hinaus. Sie ist manchmal fast so jenseits weit von Weiblichkeit und Frau-Sein. Natürlich ist die Kränkung Jasons eine weibliche Verletzung, aber was daraus resultiert, ist eine sehr männliche Art. Sie denkt nicht „ich bin eine Frau und muss mich behaupten“, sondern, „ich bin ein Mensch, und so geht man mit mir nicht um“. Auch das Kindertöten ist ja das letzte, was man mit Frau-Sein verbindet.

Constanze Becker_(c)Mai Vendelbo

Die Schauspielerin Constanze Becker beim Interview im Garten der Berliner Festspiele. Foto: Mai Vendelbo

EB: Ich dachte an das Motiv der weiblichen Hysterikerin …
CB: Aber sie ist ja nicht hysterisch, sondern durchdacht! Sie macht nichts aus dem Affekt heraus, jeder von uns handelt affektvoller als sie. Sie denkt alle Konsequenzen mit, sichert sich vorher ab. Das finde ich beängstigend.

EB: Ich hatte immer wieder Momente, in denen ich mich dabei erwischte, dass ich sie cool fand. Ein bisschen wie bei der Ästhetik von Tarantino’s Kill Bill.
CB: Auch mich reizt dieser Coolness-Faktor. Spannend ist ja, dass sie nicht durchweg sympathisch ist, auch mir nicht. Wie sie mit Menschen umgeht, das ist ziemlich ätzend und link. Zumal sie nicht erst durch Jasons Kränkung „durchknallt“, sie hat ja davor schon Dinge gemacht, die nicht integer sind. Es bewegt sich zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen. Es gibt Momente, wo ich denke: Klar muss man so handeln, sie macht das eben auf sehr konsequente Art, dann denke ich wieder: Warum? Warum so unversöhnlicher Hass?

EB: Dabei ist ihr eigentlicher Antrieb ihre übergroße Liebe zu Jason. Welche Rolle spielt die Liebe?
CB: Sie ist ein absoluter Mensch, und wenn sie liebt, dann absolut. Es gibt im Mythos die unterschiedlichsten Geschichten, wie Jason und Medea sich kennenlernten. Was das Stück verhandelt ist, was nach der Liebe passiert, die Liebe hat sich komplett in Hass gewandelt. Ich glaube, dass Medea sich diese Schwäche vorwirft, dass sie sich durch diese Liebe so angreifbar gemacht hat, dem Mann gegenüber, dass sie ihre Heimat verlassen und alles verloren hat. Das wirft ihr sogar Jason vor, dass sie von Eros so betört wurde, dass sie gar nicht beurteilen konnte, inwieweit er ihre Hilfe braucht oder nicht.

EB: Was ist dieser Jason für ein Typ?
CB: Ich bin mir auch noch nicht ganz sicher, was das für ein Mensch ist. Wir haben uns gefragt: Ist er ein Macho? Oder ein Karrierist, der seinen Aufstieg machen will und denkt, mit Medea, der Fremden in diesem Land, komme ich gesellschaftlich nicht weiter? Ich glaube aber, er ist genau wie Medea um Anerkennung bemüht, ein sehr unsicherer Mensch, der gar nicht sieht, was er mit diesem Streben nach Bestätigung den Menschen um sich herum antut. Was spannend ist: In der letzten Szene löst sich nicht ein, was sie wollte, nämlich ihn zu treffen, ihm zu zeigen, was er ihr angetan hat. Jason sagt: „Ich hab das immer gewusst, du bist eine Barbarin.“ Eine sehr ignorante Haltung dem gegenüber, was sie von ihm will: Verstehe, welches Leid du mir angetan hast, verstehe es durch dein Leid.

EB: Wie können wir uns die Proben vorstellen? Kommt Thalheimer als Regisseur mit einem fertigen Konzept?
CB: Zuerst ist da das Bühnenbild, das macht einen Großteil des Konzepts aus. Diese Setzung, da hinten steht eine Wand und ich stehe außerhalb der Bühne und irgendwann fährt das Ding nach vorne, wo es diesen schmalen Raum gibt: Dadurch ist schon viel festgelegt. Dann reden wir über die einzelnen Szenen, was da passiert und was emotional stattfindet. Dadurch jedoch, dass ich immer nur diesen einen Quadratmeter habe, muss man sich gar nicht viel ausdenken. Wir sitzen lange am Tisch und reden und lesen und lesen noch mal und überlegen: Was stellen wir in diesen Raum?

Constanze Becker_Portraet ernst (c)Mai Vendelbo

Foto: Mai Vendelbo

EB: Nach der Orestie jetzt die Medea. War das ein Wunsch von Ihnen?
CB: Nein, Herr Thalheimer kam auf mich zu. Wir haben ja auch zwischendrin „Ödipus / Antigone“ gemacht, das hatte eine Folgerichtigkeit.

EB: Bei der Preisverleihung gestern Abend wurden Sie als „moderne Tragödin“ bezeichnet. Wie geht es Ihnen mit diesem Begriff?
CB: Die Menschen wollen immer irgendwelche Überschriften finden. Ich spiele sehr gern auch ganz andere Sachen. Wenn Sie für mich diese Überschrift gefunden haben: bitteschön.

EB: Gibt es Rollen, die Sie gerne spielen wollen?
CB: Ich lasse mich immer gerne überraschen und bin froh, wenn es in einem Jahr so unterschiedliche Sachen gibt: die Medea, dann ein Kammerspiel, eine Komödie. Wenn es etwas sehr Körperliches war, dann wieder eine Arbeit mit René Pollesch.

EB. Wo sind die starken Frauen im zeitgenössischen Theater?
CB: Ich frage mich das nicht nur bei Frauen, sondern bei Menschen. Was sind die Themen, die im zeitgenössischen Theater zu verhandeln sind? Oft sind das Pseudo-Themen, die kurz interessant sind, aber nicht 2500 Jahre überleben wie so eine Medea. Ich habe aber in letzter Zeit nicht so viel Gegenwartsdramatik gemacht, allerdings eine Uraufführung von Moritz Rinke mit einer klassischen Struktur, ein Vier-Mann-Stück mit klassischen Dialogen („Wir lieben und wir wissen nichts“, 2012, Schauspiel Frankfurt; Anm.d.R.). Es ist keine einfache Zeit, es gibt so viele Themen, die angeschnitten werden. Es gibt Sachen, die nicht tot zu kriegen sind: Demütigung, Verletzung, Fremdsein. Man kann sagen, Medea ist eine Migrantin, man kann sagen, es gibt Fälle von Kindstötung heute, aus solchen alten Stücken kann man viel machen. Bei uns fand ich es spannend, es nicht zu aktualisieren, sondern zu fragen: Was ist mit dem Mensch los? Denn der Mensch wird ja nicht besser, er lernt ja nicht wirklich was. Es geht eigentlich immer so weiter.

EB: Wo sind eigentlich die hohen Schuhe der Amme, die Josefin Platt spielt, hin, die den antiken Kothurn ähnelten? Sie trug sie bei der Premiere in Frankfurt, aber bei der Berliner Premiere gestern nicht mehr.
CB: Das ist der Gesundheit der Kollegin geschuldet, weil das ein wahnsinnig anstrengender Vorgang war und sie nach zwanzig Aufführungen bat, ob man das weglassen kann. Keine weitere Bedeutung!

EB: Stand von Anfang an fest, dass der Chor nur von einer Frau gespielt wird?
CB: Ja. Thalheimer wollte dem Chor eine Individualität geben. Bei Euripides tut der Chor seine persönliche Meinung kund. Er ist keine Volksmeinung von außen mehr, sondern wird individueller. Bei Aischylos etwa ist er ein Bindeglied zwischen Menschen und Göttern. Hier handelt der Chor, indem er sagt „Ich schweige, ich verrate dich nicht.“ Wenn er petzen würde, wäre das Stück zu Ende!

EB: Zum Schluss: Was bedeutet Freiheit für die Figur Medea?
CB: Auf der Bühne steht sie zwar erhöht, aber eigentlich ist dieser Ort wie ein Gefängnis, sie bewegt sich da nicht weg, solange sie auch innerlich von dieser Demütigung gefangen ist. In der Frankfurter Inszenierung senkt sich am Ende das Podest auf den Boden. Hier in Berlin war das leider aus technischen Gründen nicht möglich. Medea kommt dann wieder ins Leben zurück und hat die Freiheit wegzugehen. Ein schönes Bild.

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Mai Vendelbo zog 2011 nach Berlin. Sie studiert Visual and Media Anthropology an der FU Berlin und arbeitet als freie Fotografin. Zuletzt hospitierte sie am Maxim Gorki Theater.

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Eva Biringer, geboren 1989 in Albstadt-Ebingen, studierte Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft in Berlin und Wien. Nach Hospitanzen bei der Zeit, dem Standard und der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung lebt sie in Berlin und schreibt unter anderem für Nachtkritik.

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