Wegen einer Erkrankung waren die Vorstellungen des „Schimmelreiters“ im Vorfeld abgesagt worden. Ist die ersatzweise szenische Lesung mehr als eine Notlösung?
Die Bühne ruht in schwarz. Ein Konzertflügel links, ein Tisch mit Tierpräparaten rechts, eine Kleiderstange vor ungedeckter Tafel schließlich, zentral platziert und von fünf Stühlen gesäumt, bilden den kargen visuellen Rahmen des Abends. Es sollte ein ruhiger werden, er wird es auch. Und sorgt gleichsam für Erstaunen. Inszenatorisch zeigt sich die Darbietung engherzig, doch auf der Bühnenrampe wird ohne Unterlass erzählt, erinnert, getrauert. Nach und nach setzt sich eine düstere Verheißung zusammen von dem, was eigentlich hätte kommen sollen, von dem, was jedoch in Hamburg geblieben ist, sich aus äußeren und inneren Gründen als nicht transportabel erwies.
Elegisches Glockengeläut
Die szenische Lesung des „Schimmelreiters“ mit konzertantem Abschluss ist ein Provisorium – und fühlt sich auch so an. Aber die merkwürdige Paarung von Theodor Storms Novelle und Beethovens letzter, literaturgeschichtlich so prominenter Klaviersonate Nr. 32, op. 111 (Thomas Mann grüßt mit seinem „Doktor Faustus“ episch aus dem Exil) entwickelt nach und nach eine eigene, wenn auch triste Dynamik. Eine intime Trauergesellschaft von Zuschauern und Schauspielern, so scheint es, ist hier zusammengekommen und harrt in hermetischer Atmosphäre aus, bis Text und Musik verklungen sind. Der Saal ist halbleer – oder halbvoll, auf die Perspektive kommt es an. Eine andächtige, vielleicht verräterische Stille liegt im Raum, die temporäre Leerstelle ‚Inszenierung‘ schreibt sich fast unmerklich in jede noch so kleine Geste der Schauspieler ein. Mit elegischem Glockenläuten aus dem Off beginnt die Lesung, verlässlich kehrt das Geläut wieder und wieder, zäsuriert und organisiert diesen Abend, der das Genre der szenischen Lesung zwar nicht in letzter Konsequenz zur eigenständigen Kunstform avancieren lässt, ihre Brüche und Kittstellen aber offen ausleuchtet und sie nicht im (reichlich vorhandenen) Dunkel der Bühne verbirgt.
Credo für Fleisch und Blut
Durch eine Erkrankung im Ensemble des Thalia Theaters sieht sich das Theatertreffen diesjährig erstmals mit einer Achterauswahl konfrontiert und um zwei Inszenierungen dezimiert, nachdem auch Ulrich Rasches „Die Räuber“ aus bühnentechnischen Gründen nicht in Berlin gezeigt werden können. Vehement verteidigen die verbliebenen Hamburger Schauspieler und Regisseur Johan Simons während des Nachgesprächs zum „Schimmelreiter“ – sowie zuletzt auch der herbeieilende, seine Intervention als „am Rande der Höflichkeit“ entschuldigende Intendant Joachim Lux – die ästhetische Setzung, das Theater heute Theater aus Fleisch und Blut sein zu lassen: Zentral ist das Live-Erlebnis, das radikal von der Leiblichkeit der Schauspieler abhängt, deren Körper und Präsenzen gerade nicht blindlings austauschbar sind. Auch wenn dies im Einzelfall bedeutet, eine Aufführung entfallen zu lassen. Den erkrankten Hauptdarsteller zu ersetzen, der den spröden wie visionären Deichgrafen Hauke Haien verkörpert, sei laut Simons und Lux keine legitime Option gewesen. Statt des Experiments einer Umbesetzung wird deshalb in der Lesung ein kollektives Körpergedächtnis aktiviert, ebenso der theatrale Modus des Zeigens in die Narration gewendet und ausdauernd vom Erzählen des Erzählens erzählt.
Erzählen des Erzählens
Schon die in der Theaterkritik umstrittene Inszenierung – mal mit dem Argument der protestantischen Blutleere verrissen, mal biographisierend verklärt, da Johan Simons selbst zwei Sturmfluten erlebte, mal ob der Virtuosität des strengen Formkorsetts begeistert aufgenommen – zeigte wenig und erzählte viel. Die Dramatisierung der Novelle Theodor Storms folgt konsequent der Logik eines multiplen Erzählrahmens. Symbolträchtige sieben Mal wird in der Hamburger Inszenierung vom tragischen Tod der Figur Hauke Haien berichtet, legendenhaft und im Modus mündlicher Überlieferung. Sukzessiv, andächtig, gefangen im Loop wird der Plot dort entfaltet, und der Geduldsfaden des Publikums immer nur so weit gespannt, dass er nicht ganz reißt, dass Risse latent bleiben. In jeder der sieben Versionen wird ein bisschen anders und ein bisschen mehr erzählt, bis ein vielstimmiges Netz narrativer Fragmente entsteht. Effizientes Sprechen wird aufgehoben, konzentrierte Rezeption zur Verpflichtung. Zeitökonomien werden überlastet, dem enervierenden Charakter von Wiederholungsschleifen ein produktives szenisches Denkmal gesetzt.
Eine formalästhetische Zuspitzung auf die Kulturtechnik der Narration erfolgt schließlich beim Berliner Nachgespräch: Den aufmerksamen Besuchern wird diese Inszenierung, die selbst auf Erzählen beruht, kleinteilig rapportiert. Das gereiste Ensemble brilliert auf und neben der Bühne mit dem Stilmittel der Teichoskopie. Sehen nicht die Ränge des Oberen Foyers im Haus der Festspiele plötzlich einem Deich ziemlich ähnlich?
Vermisst: Ikonischer Pferdekadaver
Der ikonische Pferdekadaver aus Plüsch, der das Bühnenbild der Hamburger Inszenierung stets so verstörend dominiert, fehlt in der Berliner Lesung. Als Surrogat dieser überdimensionalen Requisite sind nur die Attrappen von Hund und Katze mitgereist. Das Pferdegerippe auf der nordfriesischen Jevershallig steht im „Schimmelreiter“ für eine ganze Denktradition, die sich zwischen dem Heutigen und Gestrigen seltsam verklemmt. „Ist dein Gaul tot, steig ab“, so die mittlerweile zum Kalenderspruch kondensierte Weisheit, sich quer zu habitualisierten Gewohnheiten zu stellen. Vielleicht wurde in dem eigenwilligen Formalexperiment aus Hamburg gar nicht erst aufgestiegen, vielleicht war auch einfach das Pferd nie lebendig.
Der Schimmelreiter
Novelle von Theodor Storm
Szenische Lesung der Stückfassung (Auszüge) durch das Ensemble, eingerichtet von Johan Simons
Mit: Kristof van Boven, Barbara Nüsse, Sebastian Rudolph, Birte Schnöink, Rafael Stachowiak
Im Anschluss: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate Nr. 32 in c-Moll, op. 111
Klavier: Igor Levit.
www.thalia-theater.de
Fassung vom 16. Mai 2017