Kritikverlust

Wer ist dieser Tom Struyf, von dem ich glaube, dass er mich nur enttäuschen kann?
Selten habe ich so viel Euphorisches über eine Lecture Performance gelesen wie über „Another great year for fishing“. Selten waren meine Erwartungen so hoch, wie an diese, zum Stückemarkt eingeladene Arbeit des belgischen Performers und Autors.
Dann ist das Einzige, was mir einfällt: „Nett.“
Dieses Adjektiv ist, sofern es im Zusammenhang mit Kunst- und Kulturveranstaltungen fällt, vernichtender als jeder Verriss. In Bezug auf die Performance des belgischen Autors und Performers ist „nett“ einfach wahr, ohne zwingend vernichtend zu sein.

Tom Struyf ist ein netter Typ. So nett, dass auch das letzte bisschen Distanz zwischen ihm und den Zuschauern verschwindet, obwohl er mindestens zehn Stuhlreihen entfernt auf der Bühne steht.
Selbst, der Dramaturg Willem De Maeseneer betont im Publikumsgespräch, dass Tom ein wirklich guter Mensch ist.
Christina Zintl, Leiterin des Stückemarktes, gesteht, dass sie selten so emotional berührt war wie von Tom Struyfs Performance. Milo Rau schreibt, wer bei „Another great year for fishing“ nichts fühlt, habe kein Herz.
Alle lieben Tom.

Auch ich bin zugegebenermaßen verliebt in diesen großen, kleinen Jungen, der da am Bühnenrand steht und erzählt, er habe einfach immer versucht, alles gut zu machen. Ich möchte ihn in die Schulter knuffen, als er sich mit einer freundschaftlichen Intimität dazu bekennt, sein ganzes Leben unter absurdem Erwartungsdruck verbracht zu haben. Mit sechs Jahren veröffentlichte er ein eigenes Magazin, mit zwanzig nur von ihm gestalteten Seiten. Nach den ersten drei Ausgaben ging ihm die Puste aus, aber seine Abonnenten hatten für zehn bezahlt. Tom machte weiter. Folge Burnout.

Man lacht, fühlt mit Tom mit und vergisst, wo man eigentlich gerade ist. Im Hintergrund steht eine Leinwand, auf der ein rotes Auto durch eine goldbesonnte Landschaft fährt. Man wippt ein bisschen zu den leisen eingängigen Countryrhytmen und findet Tom immer noch netter, weil er so ehrlich und trotzdem pointiert von all den Luxusproblemen klagt, die seine Seele quälen. Dann, zwischen zwei Wippern stockt etwas im eigenen Kopf und man ertappt sich selbst dabei, wie erleichternd und entspannend es sich anfühlt, dass gerade mal nicht über weltbewegende Probleme gesprochen wird.
Denn Toms Probleme (naheliegendste Diagnose: chronisches Burnout) sind, verglichen mit dem Themenschwerpunkt „Say it loud, say it clear“ der letzten Tage, Luxusprobleme und -ängste, die jeder irgendwie kennt.

Genau da ist der Haken. Tom und wir, wir kennen uns. Wir sind gefühlt schon Freunde und Freunden hört man gerne zu, wenn ihnen etwas fehlt. Andererseits ist das hier eine Theatersituation und kein küchenpsychologischer Notfall. Was macht man jetzt damit, dass man Tom mag, obwohl er zwischendurch auch mal wenig reflektierte Töne anschlägt:
Zur autotherapeutischen Selbstfindung nach Südafrika? Bezeichnung der Autopanne in der Wüste inklusive Rettung durch südafrikanische Einheimische als authentischste Lebenserfahrung? Sowas kann man eigentlich nicht unkritisiert stehen lassen.

Vom Punkt dieser Einsicht an hat man zwei Möglichkeiten mit dem Rest des Abends umzugehen.
Erstens: Man erinnert sich an die ersten Minuten, während das Publikum noch nach Plätzen suchte. Tom Struyf stand etwas abseits auf der Bühne und drehte sich minutenlang um die eigene Achse, während er auf seine Handinnenflächen blickte. So kreist Tom um sich selbst, der Abend kreist um Tom und wir kreisen mit, weil uns Toms Welt so vertraut ist. Wir befinden uns im geschlossenen System von Toms Geschichte, die auch gar nicht versucht ein offenes System zu sein. Eine Geschichte, die sich ihre Subjektivität selbst zum Thema macht, indem sie unterschiedliche Subjektivitäten aufführt.
Die Leinwand zeigt im Wechsel verschiedene Interviews mit Wissenschafler*innen. Gefragt wird, wenn man mal ehrlich ist, nach nichts Geringerem als dem Sinn des Lebens.

Keine Ahnung, unter welchen Gesichtspunkten die Wissenschaftler*innen gecastet wurden, aber auch für die interviewte Anthropologin, den Psychater, den Kommunikationswissenschaftler, die Politikwissenschaftlerin, den Journalisten und den Spinforscher schlägt mein Herz. Jede Disziplin kennt andere „Antworten“ auf Definitionsfragen von Glück und Wahrheit und doch enden alle in der gemeinsamen Einsicht, dass es weder Antworten noch Lösungen, ja nicht mal Wahrheiten gibt.

Währenddessen: Tom tanzt. Fügt dem wissenschaftlichen Vokabular der Interviews und den biografischen Schnipseln noch die Sprache des Körpers zu. Bewegt sich mit der Tänzerin Nelle Hens durch den Raum und lässt seinem Körper keinen Ausdruck, der nicht gehetzt, getrieben oder erschöpft wirkt. Bewegt sich aber nicht zum Gesagten, auch nicht dagegen, sondern einfach anders. Die Geschichte, die Videoprojektionen und der Tanz, im dauernden Wechsel miteinander, sind drei subjektiven Perspektiven auf die Unmöglichkeit einer eindeutigen Lösungsfindung.
Und ich schwöre, ohne zu wissen, ob es der auratischen Nettigkeit von Tom Struyf in seiner Rolle als Tom oder seiner Rolle als er selbst zu verdanken ist: Jede dieser drei Erzählweisen stellt einen emotionalen Bezug zum Zuschauer her, der einem aus lauter Hingabe fast verwehrt, noch kritisch zu sein. Wollte Tom Struyf hier etwas verkaufen, es wäre ein Bestseller.

Diese unaufhaltbar fortschreitende Herzenserwärmung ist mir als Kritikerin natürlich eigentlich nicht so recht.
Denn die andere Möglichkeit diesen Abend zu erleben, wäre sich von Tom als Kumpel zu verabschieden und sich selbst damit zu konfrontieren, ob man gerade ernsthaft gut finden kann, was Tom Struyf da an Selbsterfahrungstrip eines ausgebrannten Wohlstandskindes auffährt. Ich finde man kann.
Aber ich finde gerade auch, dass Tom Struyf seine eigene Selbstbefreiung zu hippen Elektronikrhytmen tanzen darf. Obwohl ich mich normalerweise von gnadenlosen Kitschigkeiten dieser Art mental erbrechen muss.

Ich bin verliebt in diesen Abend. Obwohl er sicher in einigen Punkten hinkt.
Man muss Tom einiges verzeihen oder hoffen, dass die Geschichte, die er erzählt nicht seine eigene ist, sondern eine fiktive, die subtil mit Ironie spielt. Vielleicht will ich aber nicht, dass Tom nur eine ironisierte Form von Tom Struyf ist. Vielleicht will ich einfach, dass er nett bleibt. Ein Nett, das gar nicht den Anspruch auf einen Superlativ erhebt.
„Wir sind nicht alle Brad Pitt oder Christina Aguilera“, sagt irgendwann der interviewte Psychologe.
Vielleicht ist es das, was auf diese eigentümlich bescheidene Weise so berührend ist.

Hier schreibt Rebecca Jacobson als ebenfalls Betroffene des „Another great year for fishing“-Phänomens.

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Judith Engel

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