Besprechung Atlas der abgelegenen Inseln
Halte die Muschel ans Ohr! (Klick den Sound, dann lies weiter.)
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Hübsch ist’s hier. Auch ein bisschen düster und unheimlich. Türen klappen, Koordinaten von unbewohnten Eiländern schallen aus Lautsprechern, und Symphonien, die von hinterm Horizont erzählen wollen, brechen ab, setzen wieder an und spinnen sich weiter bis sie von großen Schiffsglocken ausgeklungen werden. Dem „Atlas der abgelegenen Inseln“, einem Buch von Judith Schalansky, wurde in einer Inszenierung vom Schauspiel Hannover ein (Hör-)Ort gegeben. Das Buch, das 2010 als schönstes deutsches Buch ausgezeichnet wurde, erzählt unter anderem von Menschen, die der Zivilisation den Rücken zugekehrt haben, um Abgeschiedenheit zu finden oder den Ruhm eines Pioniers für sich zu beanspruchen.
Einige Augenbrauen dürften überrascht in die Höhe geschossen sein, als Thom Luz’ Inszenierung zum Theatertreffen eingeladen wurde. Im diesjährigen Festival scheint die Verschränkung von Politik und Theater so sehr ins Zentrum gerückt zu sein, dass eine augenscheinlich unpolitische Arbeit womöglich als eher verschnörkelt schön abgetan werden wird. Die elegische Hörcollage für vier Spieler und vier Musiker kann sich allerdings den kritischen Sacharinstempel, den sie sich hier in Berlin eingefangen hat, getrost wieder aus dem Reisepass streichen.
An den Wänden des Carl-von-Ossietzky-Gymnasiums in Pankow fordern Plakate den angehenden Abiturienten, der am Tage durch die nun zugenebelten Hallen wandelt, dazu auf, seinen Karriereweg zu finden. Die nachtaktiven Inselrufenden des Atlas brechen in dieses Nützlichkeitsdiktat ein und tippeln immer wieder barfuß die breiten, statuenverzierten Treppenaufgänge hinauf. Eine ungewohnt fordernde Haltung von den Spielern, die immer ein kleines bisschen zu nah am Publikum stehen, packt uns, und ohne Schnorchel springen wir zusammen mit diesen geisterhaften Seelen in die ungewisse See aus exotischen Lebensentwürfen fremder Inselstaaten und Klageliedern ungekannter Helden. Es scheint, sie haben uns ein Geheimnis mitzuteilen.
Es ist nie klar, ob die dünne Scheinwelt, die die Fäden und Taue der Aufführung zusammenhält, nun ein Luxusdampfer oder ein zerfallendes Hotel sein soll. Doch der imaginative Ort ist nicht wichtig. Charaktere, Orte, Töne – alles wiederholt und changiert unaufhörlich. Performer geben unzuverlässige Versprechen und die Violinenspieler ziehen unheimliche Fratzen. Anschwellende Musik verzerrt süßliche koloniale Erlösungsfantasien aus der Vergangenheit in alptraumhafte Geräuschskulpturen im Heute. Erhabene Gesten von Beatrice Frey und der reizend grinsenden Sophie Kraus werden immer wieder hektisch untergraben von den umherhetzenden Männern. Die Geschichtsfetzen der gescheiterten Eroberer haben die Körper dieser Spieler durchfeuchtet mit Schweiß und Pomade und Günther Harder (verstört und abwesend) bewegt sich meist windend zwischen den drei Etagen hin und her.
In Luz’ Version vom Atlas wird die Komplexität von Geschichte und Geschichten überfordernd fühlbar und kakophon hörbar. Von den anderen Etagen wehen ständig sich überlappende oder widersprechende Klänge, Melodien und Wortfetzen hinauf. Wenn man so vorgeblättert bekommt aus der Vergangenheit der Inselsehnsüchtigen, werden wir Teil von einem abstrakten Weltkonstruktionsprozess.
Italo Calvinos Anti-Dante „Die Unsichtbaren Städte” ist der Versuch einer zusammengeklaubten Stadtutopie, in der zwischen Infernozerfall und Paradies der Mensch und seine Entscheidungen steht. Der Atlasabend bietet keine Utopie an, denn wir fremdeln mit dem Geheimnis der sich Umherstehlenden und wir werden nie eingeweiht. Wir können uns nicht auf die abgelegenen Inseln wünschen, wenn uns das Hier und Jetzt zu stumpfsinnig ist. Das Geheimnis der Schleichenden ist vielleicht, dass das „Woanders”, aus dem sie plötzlich auftauchen, nur eine Idee ist. Sie kommen eigentlich aus dem Nirgendwo und ihre am Körper haftenden Kompassnadeln surren ziellos im Kreis. Das „Woanders” gibt es nicht, nirgends, wo man sich hinstehlen könnte.
„Atlas der abgelegenen Inseln“ ist keine bloße Unterhaltung. Im Gegenteil, das Stück stellt heraus, wie Eskapismus scheitern kann. Luz präsentiert hier eine Aufforderung zum Kreieren von Utopien im Jetzt – am Arbeitsplatz, im eigenen Heim, im Theater oder an Schulen. Das ist möglich. Und das ist dann mehr als nur hübsch.
Mit: Maria Pache, Karoline Steidl, Iris Maron, Mikael Rudolfsson, Beatrice Frey, Günther Harder, Oscar Olivo und Sophie Kraus
Regie: Thom Luz, Bühne: Demian Wohler; Kostüme: Tina Bleuler, Dramaturgie: Judith Gerstenberg, Musikalische Leitung: Matthias Weibel.
Soundcollage mit Teilen aus dem Stück und eigenen Aufnahmen.