Reclamwand versus Dramasseure

Eigentlich sollte zum „Theater im Zeitalter der Virtualität“ diskutiert werden, am Ende stand aber doch eine alte Grundsatzfrage im Mittelpunkt der Debatte, die Marion Hirte anlässlich der Eröffnung des Stückemarkts beim tt09 mit den Autoren Moritz Rinke und Kathrin Röggla, der Theaterwissenschaftlerin Barbara Gronau und dem Dokumentartheatermacher Hans-Werner Kroesinger führte: „Was ist zeitgemäßer: Autoren- oder Dokumentartheater?“ Hier finden sich Kernzitate der einzelnen Diskutanten zum Nachlesen.

Rinke: „Die Theater vergehen, die Stücke bleiben.“

„Nicht alles, was alt ist, ist schlecht – das gilt auch für das Drama. Vor seinem eigenen Reclam-Buchregal zu stehen, ist für einen Dramatiker sehr hilfreich, weil man sieht: Die Theater vergehen, die Stücke bleiben. Ich muss immer an eine Recherche-Reise mit dem Clubschiff AIDA denken, wo ich auf dem FKK-Deck eine Frau mit einem großen Silikonbusen ein Stück von Einar Schleef lesen sah. Da wusste ich: Das Drama wird nicht verschwinden! Wer hat denn die Zeit, wenn nicht die Dramatiker, Menschen genau zu beobachten und zu beschreiben? Wir werden ja im Moment überschwemmt von so genannten Projekten, weil Regisseure die Neigung verspüren, ‚Dramasseur‘ zu sein. Aber sie werden bald merken, dass sie damit entscheidend an Substanz verlieren.“ (Moritz Rinke)

Kroesinger: „Fiktionales Theater interessiert mich nicht.“

„Man kann Theater mit Sicherheit fiktional bearbeiten, aber das ist etwas, was mich nicht interessiert. Ich interessiere mich für Geschichte, und ich interessiere mich für Konflikte, und da bietet die Welt ein reichhaltiges Beschäftigungsfeld, auch, weil die Konflikte meist eine längere Geschichte haben. Ich glaube, dass das Theater ein sehr gutes Filtermedium ist, mit dem man dieses Material sortieren kann. Das Ergebnis unserer Projekte ist ein Arbeitsangebot und funktioniert deshalb so gut, weil das Theater ein Ort der Konzentration ist, wo ganz viele unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Biographien zusammenkommen, das Gleiche erleben und auf die Präsenz des Geschehens unterschiedlich reagieren. Das schreibt sich anders ein als Kino und Fernsehen.“ (Hans-Werner Kroesinger)

Gronau: „Wo verbirgt sich auf welche Weise Welt?“

„Wenn wir uns Dramatik und andere theatrale Formen anschauen, sollten wir sie eher als Symptome beschreiben, nämlich als nicht-intendierte Anzeichen für einen Ansatz von Welt oder Gesellschaftlichkeit oder Kreativität. Das Drama ist immer Anzeichen einer bestimmten gesellschaftlichen Realität, und das gilt für andere theatrale Formen genauso. Als Theaterwissenschaftlerin habe ich die Aufgabe herauszufinden, wo sich in diesen Formen auf welche Weise Welt verbirgt. Und da muss ich sagen, sind mir alle Formen, alle Stile, alle Epochen gleichermaßen interessant. Die Bühne ist immer ein Ort des Virtuellen, an dem mögliche Welten, mögliche Handlungen vorgestellt oder meinetwegen auch experimentell ausprobiert werden.“ (Barbara Gronau)

Röggla: „Wie kann Ästhetik auf Politik und Gesellschaft reagieren?“

„Mich interessiert an Theater, dass ein zwingendes Rätsel auf die Bühne kommt. Es geht einfach darum: Wie kann Ästhetik auf Politik und Gesellschaft reagieren, und zwar, indem sie aufgreift, auf wie vielen verschiedenen Ebenen und in welchen Beziehungen die Dinge heute stehen. Da muss sich darstellen, dass wir es nicht nur mit einer linearen Geschichte, einem Plot zu tun haben. Mich interessiert kein psychologisches Theater, wo nach einem dramatischen Text ein paar Figuren repräsentiert und ausgestellt sind. Ich finde es viel spannender, mit der Präsenzbehauptung des Theaters zu spielen, dieser Einheit von Raum und Zeit, die durch die Medienimplikationen sonst nirgendwo mehr so gegeben ist. Das zu brechen, interessiert mich.“ (Kathrin Röggla)

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Johannes Schneider

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