Schizophren vereinigt

Vier Persönlichkeiten ergeben einen Franzkarl Moor. Vier Engelteufel toben in einer Person. In Nicolas Stemanns Inszenierung von Schillers „Die Räuber“ dividieren und multiplizieren vier Schauspieler die Zerrissenheit eines Menschen zwischen Freiheit und Bindung, Verantwortungslosigkeit und Liebesbedürfnis, Stolz und Opportunismus. Ein Abend gegen alle, ein kleines Resümee zur Halbzeit.

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Die Faust sprechen lassen: Die vier "Räuber" in Nicolas Stemanns zum tt09 eingeladener Inszenierung. Foto: Arno Declair

Man könnte Nicolas Stemanns Theater als einen Gegenentwurf zum Theater Jürgen Goschs sehen. Wo bei Gosch unkenntlich ist, inwieweit das Spiel überhaupt verabredet ist und ob der Begriff des Darstellens (noch) angebracht ist, ist Stemanns Inszenierung eine einzige große Verabredung, eine artifizielle Konstruktion.

Bei Stemanns „Räubern“ dominiert klar ein Konzept, das vermutlich auch bei Probenbeginn schon so existierte: der Einfall, dass die so unterschiedlichen wie verfeindeten Brüder Karl und Franz Moor ein und dieselbe Person sind (Philipp Hochmair, Daniel Hoevels, Felix Knopp, Alexander Simon). Gosch hingegen startet dezidiert ohne konkrete Pläne, lässt seine Schauspieler spielen. Somit ist aber beispielsweise „Die Möwe“ ungleich unflexibler, verhafteter an die Schauspielerpersönlichkeiten, bleibt einzelschicksalshaft.

Stemanns schnelle, laute, sprunghafte Inszenierung verflicht jedoch sowohl Typen und Strukturen als auch Sinneseindrücke und Individuen. Berührende Momente entstehen in der Liebesgeschichte zwischen den Karls und Amalia (Maren Eggert), wie auch unter den vier Jungs selbst. Gewaltige Bilder für die Brutalität der Räuber entstehen durch Rockmusik live auf der Bühne und Gegenlichtwand ins Publikum. Auch die gesunde Respektlosigkeit vor dem Text tut mal gut. Wo ein Text heute komisch klingt, wird es eben komisch; warum nicht einfach Lächerlichkeit zulassen?

Christoph Schlingensiefs Fluxus-Oratorium, das der bildenden Kunst sehr nahe steht und somit schwer vergleichbar ist, haben „Die Räuber“ immerhin eine starke dramaturgische Form voraus. Während in der beeindruckenden „Kirche der Angst“ Tagebucheinträge fragmentarisch zusammenhängen, schaukelt sich die Gewalt und Schizophrenie der „Räuber“ bis zur Katastrophe immer weiter auf.

Dem Fräulein Rasch in Katie Mitchells „Wunschkonzert“-Inszenierung hingegen kann man sich ganz gut entziehen. Hinter all den Kameras und Effekten ist dann enttäuschend wenig Tiefes, in das man sich versenken könnte, wohingegen das Drama des Franzkarls, wie es Stemann herausgearbeitet hat, unendlich viele Facetten hat. „Der Prozess“ in der Inszenierung von Andreas Kriegenburg begeistert ob seiner Bildgewalt und schuf  zwar eine eigene, neue Welt; nur liegt vielleicht gerade darin ein zu großer Abstand zur unseren. In Nicolas Stemanns „Räuber“ hingegen werden trotz teilweise historischer Kostüme zeitlose Konflikte verhandelt. Vor der Entscheidung für Freiheit oder Bindung, für Verantwortung oder Verantwortungslosigkeit stehen eben nicht nur Räuber.

Drei Premieren stehen nun noch an – drei unterschiedliche Stücke, unterschiedliche Ästhetiken, unterschiedliche Ansätze. Auf drei letzte interessante Produktionen, die die Vielfalt des diesjährigen Theatertreffens komplettieren!

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Matthias Weigel

Matthias Weigel, geboren 1986 in Marktredwitz, studierte in Erlangen Theater- und Medienwissenschaft. Er arbeitet als Redakteur bei nachtkritik.de und ist Projektleiter Second Screen für die Serie About:Kate (Arte) bei Ulmen Television.

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