Der in Hongkong geborene Autor Pat To Yan ist mit „A Concise History of Future China“ zum Stückemarkt eingeladen worden. Sein Text verwebt Gegenständliches mit Metapher und Abstraktion zum Kaleidoskop einer finsteren Zukunft. Die szenische Lesung am gestrigen Dienstag erwies dem Stück allerdings einen Bärendienst, wie unser Autor fand.
In der Kassenhalle des Hauses der Berliner Festspiele, dem „Camp“, wie der Raum im Jargon des Theatertreffens lässig heißt, stehen auf einer etwa zwei Mal vier Meter großen Bühne zahlreiche Lautsprecher unterschiedlichster Façon. Der Blick fällt durch die dahinterliegende Fensterfront nach draußen in den mittlerweile vielfach blühenden Garten. Man ahnt schon, dass die dort verstreut herumsitzenden Gestalten mit Perücken in Kürze eine Rolle in der Szenischen Lesung des Theaterstücks „A Concise History of Future China“ des 1975 in Hongkong geborenen Autors und Regisseurs Pat To Yan spielen werden. Sein englischsprachiger Bühnentext ist gemeinsam mit vier anderen zum diesjährigen Stückemarkt im Rahmen des Theatertreffens eingeladen worden.
Im Stahlbad der Szenischen Lesung
Man muss nun sagen, dass es für Theaterautor_innen kaum schwierigere Situationen gibt, als solche Szenischen Lesungen. Für gründliche Proben ist meist keine Zeit, die Budgets sind niedrig und ob der Text tatsächlich – wie es eigentlich die Grundidee dieses Genres wäre – mit seinen Stärken in den Vordergrund treten kann, bleibt unterm Strich Glückssache und kann von den Autor_innen kaum beeinflusst werden. Trotzdem will kein Festival von dieser glücklosen Tradition Abstand nehmen. Es scheint sich um eine zuverlässige Enttäuschung zu handeln, auf die man partout nicht verzichten will. Vielleicht ist es auch ein Siebemechanismus: Wenn ein Text halbwegs lebendig durch das Stahlbad der Szenischen Lesung gekommen ist – so könnte das zweifelhafte Kalkül lauten –, kann er anschließend auch in vollständigen Inszenierungen auf der Bühne bestehen.
Dann aber war diese Probe für „A Concise History of Future China“ zu viel. Zunächst holt Philipp Preuss, der die Einrichtung des Textes übernommen hat, noch eine Menge aus den Möglichkeiten des Formats sowie des Ausgangsmaterials heraus. Die Akteure befinden sich allesamt draußen hinter Glas und sprechen in Mikroports, sodass ihre Stimmen aus den verschiedenen Boxen des innenliegenden Lautsprecherwalds ertönen. Der Sound ist gut, die Klangfarbe angenehm. Die metaphorische Überführung des Namens der Hauptfigur „the outsider“ in eine szenische Grundsituation hat Charme und kitzelt die Wahrnehmung. Das Setting eines theatralen Hörspiels wird von fünf Performern bespielt, die – und da beginnt das Dilemma – nicht sonderlich gut Englisch sprechen, obwohl sie 58 Seiten englischsprachigen Text rezitieren müssen. Dazu kommt, dass sowohl die Spielhaltungen als auch die Konsequenz im Umgang mit der selbst auferlegten Innen/Außen-Situation im Laufe der Inszenierung immer verwaschener und beliebiger werden. So gleitet ein vielversprechendes surreales Setting mit zunächst sympathisch-nonchalanten Akteuren spätestens ab der zweiten Hälfte immer mehr in eine wirklich problematische Trashperformance, der man am Ende gar nichts mehr abkauft – schon gar nicht die Worte Pat To Yans, die auf diese Weise fortwährend desavouiert werden.
Theatrales Potenzial nicht ausgeschöpft
Ganz unschuldig sind aber auch sie an dem Schlamassel nicht. Der Text entwirft ein sich aus mehreren Zeitschichten überlagerndes apokalyptisches Szenario, in dem zwölf rätselhafte Figuren (beispielsweise der Mann, der Zeuge von Schmerzen wurde, die Weiße-Knochen-Lady oder die Katze mit einem Loch) sowie ein Roboter-Geister-Menschen-Chor in dreizehn Szenen, vorwiegend Eins gegen Eins, aufeinander treffen. Im Hauptstrang der Geschichte versucht der „outsider“ ein rätselhaftes Paket aus dem Süden in den Norden, genauer in das Theater der Hauptstadt zu bringen. Auf genaue Ortsangaben wird verzichtet. Es handelt sich, wie der Autor auch im Nachgespräch versichert, nicht einfach um ein baldiges China, sondern allgemein um eine von Krieg gezeichnete Zukunft, in der aufgrund der handfesten Not die schon heute virulente Frage nach Identität und Nationalität auf die Spitze getrieben wird.
In den assoziativ-bildreichen Versen Pat To Yans fließen Metapher, Abstraktion und Gegenständlichkeit zu einem eigenen Wirkungsraum ineinander. Doch die Poesie der Sprache bleibt meist eindimensional und wirkt häufig wie schon mal benutzt. Zudem spricht der Text jede seiner Beobachtungen so deutlich aus, dass die von ihm selbst aufgestellte Behauptung imaginationsfördernder Rätselhaftigkeit selten eingelöst werden kann. Insofern kommt „A Concise History of Future China“ nie recht in Schwung, öffnet in seinen starken Momenten zwar die Tür zu einer interessanten künstlerischen Setzung, geht durch diese aber nicht hindurch und zerfällt stattdessen gerade gegen Ende zunehmend zur Banalitätencollage.
Zugutehalten muss man dem Stück freilich, dass sein theatrales Potential im hiesigen Vortrag keineswegs erschöpfend ausgelotet wurde. Vielleicht erhält Pat To Yans konzise Geschichte des zukünftigen Chinas ja noch eine weitere Chance, auf einer Bühne erzählt zu werden. Die Szenische Lesung beim diesjährigen Stückemarkt war ihr leider keine große Hilfe.
A Concise History of Future China
Von Pat To Yan
Einrichtung: Philipp Preuss, Dramaturgie: Christina Zintl, Ausstattung: Ramallah Aubrecht
Mit: Lea Draeger, Sébastien Jacobi, Aleksander Radenković, Felix Römer, Marie-Lou Sellem
60 Minuten, keine Pause
Stückemarkt des Theatertreffens 2016