Seit 2012 ist Dr. Thomas Oberender Intendant der Berliner Festspiele – ebenso lange verantwortet Yvonne Büdenhölzer die Leitung des Theatertreffens. Wir haben beide zu einem Rückblicksgespräch über die diesjährige Ausgabe des Festivals getroffen. Sie verrieten uns, was sie überrascht, bewegt und verwundert hat – und welche längerfristigen Entwicklungen sie stärken möchten.
TT-Blog: Wir sind jetzt fast am Ende des Theatertreffens angelangt. Wie haben Sie beide das diesjährige Festival erlebt? Was hat Sie überrascht?
Yvonne Büdenhölzer: Ich mache mir, sobald die Auswahl feststeht, Gedanken über die Dramaturgie des Spielplans, und da war ich ein bisschen überrascht, wie manche Arbeiten aufgenommen worden sind. Zum Beispiel habe ich das Eröffnungswochenende immer als Dreierpaket programmiert, also „Schiff der Träume“, „Väter und Söhne“ und „Tyrannis“. Ich finde, dass diese drei Inszenierungen für die Vielfalt an Ästhetiken und Formsprachen des diesjährigen Festivals stehen, aber die komplette Rezeption hat sich auf „Schiff der Träume“ konzentriert. Das hat mich zum Beispiel überrascht. Dann finde ich, dass das Focusthema des ersten Wochenendes „Arrival Cities – Willkommensland Deutschland?“ sehr gut funktioniert hat, also dass eine sachliche Debatte auf Augenhöhe mit den Künstlern, den eingeladenen Experten und den Zuschauern stattgefunden hat, das hat mich sehr gefreut. Im letzten Jahr haben wir mit den „Schutzbefohlenen“ die Thematik um die Geflüchteten gestartet und in diesem Jahr wollten wir bewusst die Perspektive wechseln und uns aus unserer gesellschaftlichen Sicht mit der Thematik beschäftigen: Wie müssen sich die Orte der Ankunft wappnen um den neuen Herausforderungen gewachsen zu sein? So verstehe ich auch die Focusschwerpunkte: Dass wir auf den Spuren der zehn Inszenierungen Themen verstärken, die in der Auswahl zu finden sind. Und dann hat es mich sehr gefreut, dass die starken Schauspielerarbeiten so großen Anklang beim Publikum gefunden haben. „John Gabriel Borkman“ zum Beispiel, aber auch „Mittelreich“ und „Väter und Söhne“.
TT-Blog: Wie ist bei Ihnen der Rückblickstand, Herr Oberender?
Thomas Oberender: Für mich persönlich war es ein Festival der Entdeckungen. Ich hatte nur etwa ein Drittel der Aufführungen vorher gesehen und wurde dann auch tatsächlich durch das Festival, die Auswahl, überrascht. Bei Ersan Mondtag gab es ein Moment, wo man versteht: Ab jetzt ist eine Ästhetik da, die es vorher nicht gab – das ist eine neue Handschrift und ein komplexer, interessanter Künstler. Ich erlebte das mit Anna-Sophie Mahler ähnlich, die Arbeit hat mich überrascht und erfreut und in ihrem poetisch-künstlerischen Gestus inspiriert. Und was beim Festival neben der Zehnerauswahl noch zu entdecken war, erlebte ich oft ebenfalls als sehr bereichernd. Die Aufführung „TRANS-“ von two-women-machine-show und Jonathan Bonnici im Stückemarkt führte ein ganz anderes Prinzip von Theater vor. Plötzlich wird von der Bühne zurückgeschaut und so entsteht ein Theater, das seinen Text erst in der Begegnung mit dem Publikum generiert, ein Theater, das einen Gemeinschaftsraum kreiert. Es gibt kein Unten und Oben, kein Hier und Dort, sondern es gibt nur das Geteilte, das zum gemeinsamen Ereignis wird. Auch die Workshops zählen übrigens zu diesem ungeheuren und unerwarteten Mehrwert des Festivals. Ich habe beim Künstler*innengipfel sehr erhellende Impulsvorträge gehört, genauso beim Schwerpunkt zur „Figur als Skulptur“, wo Dorothea von Hantelmann, Barbara Gronau oder Doris Kollesch gesprochen haben.. Auch das Bürgerbühnen-Gastspiel aus Dresden war außerordentlich intelligent und in der Form sehr immersiv, man saß mitten drin in dieser Begegnungs- und Erfahrungswelt und die Menschen aus Syrien, Tunesien und Afghanistan haben mich an diesem Tag sehr berührt. Experimentelle Aufführungen wie „Trans“ und „Morgenland“ haben mir einen frischen Glauben an Theater gegeben, genauso wie auf ganz andere Weise auch der „Borkman“ aus Wien, obgleich es vergleichsweise konventionell wirkt. Man könnte endlos darüber philosophieren, was für eine Art von Stück man bei „Borkman“ eigentlich wirklich gesehen hat, wessen Stück das ist – durchaus im Sinne eines Kompliments. Und so ist das Theatertreffen für mich ein Kosmos mit vielen leuchtenden Sternen, dessen zentraler Planet die Zehnerauswahl ist.
„Wir akzeptieren die Jury und greifen eher Impulse auf.“
TT-Blog: Wie verstehen Sie die kuratorische Tätigkeit des Theatertreffens, wo fängt sie an, wo hört sie auf, welche Funktion hat sie?
Büdenhölzer: Die Auswahltätigkeit geht erstmal von zwei Jurys aus, der Theatertreffen-Jury und der Stückemarkt-Jury. Die Zehnerauswahl ist das Herzstück des Festivals, ein weiteres traditionsreiches Programm ist der Stückemarkt. Das sind zwei sehr klar abgegrenzte Formate. Und dann gibt es von uns das Bestreben, aus dem Festival mehr zu machen als die alleinige Präsentation von zehn Inszenierungen und dazu noch ein paar Publikumsgespräche zu veranstalten. Wir wollen das gesamte Theater als Kosmos erlebbar machen. Und da fängt für mich die kuratorische Arbeit mit den Dramaturgen Christina Zintl und Daniel Richter aber auch auf der Festspiel-Ebene mit Thomas Oberender an. Wir überlegen also: Welche Themen wollen wir verstärken und welche Arbeiten könnten inhaltlich dazu passen? Ein weiteres Format, das vor drei Jahren hinzugekommen ist, ist unser Focus. In den letzten Jahren haben wir darin immer einzelne Künstler hervorgehoben, in diesem Jahr haben wir erstmals einen Themenschwerpunkt gebaut – „Focus Skulptur / Performance / Schauspiel“. Uns interessiert auch die Verbindung zum Martin-Gropius-Bau: Dort läuft parallel gerade die Werkschau von Isa Genzken. Die Ausstellung aber auch ein Phänomen der Auswahl, dass Schauspieler nahezu als lebendige Skulpturen inszeniert werden, wie zum Beispiel bei Ersan Mondtag, Herbert Fritsch oder Susanne Kennedy war Anlass für dieses Thema. Und so kam dann die Idee, eine frühe Arbeit von Susanne Kennedy innerhalb dieses Schwerpunkts einzuladen. Das ist auch ein Aspekt, wie ich das Festival weiter ausbauen möchte.
TT-Blog: Ist das dann auch eine längerfristige Entwicklung für das Theatertreffen? Dieses Interdisziplinäre zu verstärken?
Oberender: Das haben wir letztes Jahr schon gemacht mit der Fassbinder-Ausstellung und dem Schwerpunkt Fassbinder. Das Theatertreffen hat in der Vergangenheit wiederholt große internationale Gastspiele zusätzlich zur Zehnerauswahl eingeladen. Das Festival ist sowohl ein Branchentreff wie auch ein Publikumsfestival und zeigt die ganze Welt des Theaters. Anfang des Jahres planten wir noch einen Focus Bondy, aber wurden nicht ausreichend fündig, und so sind dann mehrere kleine Inseln entstanden statt dieses einen Focus wie bei Gotscheff oder Fassbinder. Wobei das Thema „Die Figur als Skulptur“ durch die Isa-Genzken-Ausstellung und die eingeladenen Arbeiten sich fast aufgedrängt hat. Gefährlich würde es, wenn wir sagen: Das finden wir aber schade, dass die Jury die Arbeit von Alvis Hermanis nicht eingeladen wurde, die holen wir deshalb jetzt selber. So ist es nicht. Wir akzeptieren die Jury und greifen vielmehr Impulse auf, die ihre Auswahl vertieft und vom Festival her möglichst anregende Impulse in die Theaterszene zurück gibt – einer Künstlerin wie Isa Genzken zu begegnen, die so reich, theatral und performativ arbeitet, kann ihr nur gut tun. Eigentlich sollten alle Theaterleute gerade in den Hamburger Bahnhof pilgern und anschauen, wie Carl Andre mit dem Raum umgeht, was da für ein körperliches Maß dahinter steckt, aber das machen gute Theaterleute ohnehin. Nur ist das alles kein Dogma: Theater muss nicht immer interdisziplinär sein. Es kann auch einfach nur Schauspieler in den Schnee stellen wie bei Simon Stone, der dafür den Text ins Heute holt, und in einem abstrakten Raum ganz auf die physische Präsenz und Intelligenz von echten Menschen setzt. Aber auch das ist kein Generalrezept, und deshalb fände ich es in den nächsten Jahren spannend, wenn wir im Focus mal sagen: „Kosmos Figurentheater“, „Kosmos Tanztheater“, „Kosmos Performance“. All das spielt in der Theaterwelt ja offensichtlich eine große Rolle und wird in der Zehnerauswahl auch immer wieder gestreift, also schauen wir da doch mal etwas genauer hin.
TT-Blog: Kann man Ihrer Meinung nach sagen, dass die 10er-Auswahl die Trends der diesjährigen Theatersaison flächendeckend abbildet?
Büdenhölzer: Ich finde das immer ein bisschen absurd, dass man behauptet, man könne anhand von zehn Aufführungen eine Tendenz ablesen. Die Jury hat 400 Aufführungen gesehen und an den Bühnen kommen im Jahr wahrscheinlich mehr als 3000 (Nachtrag: laut Bühnenverein rund 7300 Inszenierungen im Sprech- und Musiktheater) raus. Von der Tendenz zum Trend zu denken – das finde ich nicht nachvollziehbar.
TT-Blog: Also dann wären Trends ja eher im Rahmenprogramm abzubilden, oder?
Büdenhölzer: Auffällige Phänomene, ja. Wie geht man mit der Flüchtlingsthematik im Theater um, das war in der Jury ein großes Thema. Trotzdem ist es ja nicht so, dass sich das eins zu eins in der Auswahl widerspiegelt.
„Die vielen kleinen Produktionen waren eine Herausforderung.“
TT-Blog: Das Festival endet nun mit „Hideous (Wo)men“, das erscheint ja schon wie eine Setzung. Warum schließt das Theatertreffen mit einem zusätzlich zu dieser Auswahl der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen eingeladenen Gastspiel?
Büdenhölzer: Das ist hier leider ein Terminzwang Man kann das als inhaltliche Setzung lesen, es ist aber nicht so gedacht, sondern hat etwas mit Arbeitszeiten der Gastbühne und dem Abbau zu tun.
TT-Blog: War das dann das gleiche Problem bei der Parallelführung von Premieren? Bei „Ein Volksfeind“ und „der die mann“?
Büdenhölzer: Ja. Wir bekommen unsere Auswahl sehr spät, im Februar, da haben die Bühnen ihre Spielpläne schon relativ weit programmiert. Und dann bin ich auch immer damit konfrontiert, dass Künstler Drehtermine haben, dass man sie gar nicht bekommt, ohne einen kleinen Geldkoffer auf den Tisch zu legen, um sie aus irgendwelchen Filmen rauszukaufen. Die Künstler von Herbert Fritsch konnten die Premiere nur an diesem Tag spielen, und dann gab es wiederum Zwänge mit der Premiere von Stefan Pucher an den Münchner Kammerspielen. So ergibt sich auf einmal eine Doppelpremiere. Das ist einfach so. Eine weitere Herausforderung dieses Jahr waren die kleinen Produktionen, sodass man einfach einen Spielplan konstruieren muss, um viele Doppelvorstellungen zu ermöglichen. Wenn die Zehner-Auswahl dann steht, baue ich die Gastspiele und Lesungen des Stückemarkts ein. Aber das macht ja auch Spaß, so ein Spielplan ist wie ein Puzzle. Übrigens ist das ohnehin ein Dilemma: Die Bühnen hätten die Auswahl für die Planung gerne viel früher. Gleichzeitig würde die Jury jedoch am liebsten noch bis Ende April alle Premieren sichten können.
„Wir versuchen, ein Ort des Festes und des Geistes zu sein.“
TT-Blog: Sind denn fürs nächste Jahr noch Veränderungen fürs Theatertreffen geplant oder angedacht?
Büdenhölzer: Also spruchreif ist noch nichts. Wir sind schon im Gespräch über bestimmte Künstler, die uns interessieren, und die neue Jury reist ja auch schon seit Anfang Februar. Es gibt schon sehr viele Arbeiten, die diskutiert werden. Ansonsten werten wir natürlich erstmal aus, wenn das diesjährige Festival vorbei ist.
TT-Blog: Wie würden Sie das Theatertreffen im Kontext der Berliner Festspiele verorten?
Büdenhölzer: Ein Festival ist immer eine Begegnung. Das Theatertreffen hat durch die Kritiker-Jury ein Alleinstellungsmerkmal, das die anderen Festivals der Berliner Festspiele nicht haben. Und diese Jurykompetenz dann im Festival inhaltlich auch sichtbar zum machen, ist die Idee unserer Themenschwerpunkte.
Oberender: Wir versuchen, den Vorteil, den die Festspiele durch ihre beiden Häuser haben – das Theater und das Ausstellungshaus, bei der Konzeption unserer Festivals zu nutzen, was ja auch einer gewissen Entwicklung in der Welt des Theaters entspricht. Aber wir versuchen auch, ein Ort des Festes, des Geistes zu sein. „Festival“ heißt eben auch Zusammenkommen, eine gute Zeit haben, sich kennenlernen, austauschen. Das Internationale Forum, die Besucherprogramme, die anreisenden Kuratoren, all das bringt die weite Welt in unser kleines Treffen, wir feiern Partys und raufen uns die Köpfe, denn jeder Tag hat beim Theatertreffen drei Schichten: Diskurs am Vormittag, Vorstellung am Abend, Feiern in der Nacht. Jeder Festivaltag ist ein vielschichtiger Versuch, das lebendige Theater zu begreifen – das Neue und Andere zu treffen, auszumachen und zu verstehen – davon zehre ich immer wieder ziemlich lange.
Die Fragen stellten Andrea Berger und Falk Rößler am 21. Mai 2016 im Haus der Berliner Festspiele.