„Adam und die Deutschen (Die Mühle)“ von Tine Rahel Völcker war die letzte der szenischen Lesungen beim diesjährigen Stückemarkt. Unsere Autorin setzt sich mit dem Format auseinander.
Für den diesjährigen Stückemarkt wurden Theatertexte oder Theaterprojekte gesucht, „die sich mit der Beschreibung einer komplexen Diversität von Gesellschaft beschäftigen und so Welt erfahrbar machen, an Zuständen rütteln, nachfragen oder alternative Zukunftsvisionen errichten.“ Es wurden 286 Arbeiten eingereicht, davon 201 Texte und 85 Projekte. Sechs Arbeiten wurden ausgewählt: „Who cares?“ von Swoowh Lieu, „Zelle Nummer“ von Petra Hůlová, „We Are the Ones Our Parents Warned US About“ von Tanja Šljivar, „Lauf und bring uns dein nacktes Leben“ von Rainer Merkel, „Das Knurren der Milchstraße“ von Bonn Park und „Adam und die Deutschen“ von Tine Rahel Völcker.
Intelligente Allegorie
Kurz vor der Vergabe des Werkauftrags, 15.30 Uhr, Kassenhalle: die letzte Stückemarkt-Präsentation als Szenische Lesung des Stücktextes „Adam und die Deutschen (Die Mühle)“ von Tine Rahel Völcker. Unzählige Textblätter, die die aufgestellte lange Tafel und den Boden bedecken, stoßen uns mit der Nase auf den Charakter des Formats „Szenische Lesung“. Es ist ein schöner Theatertext; es gibt fünf recht klar gezeichnete Figuren, mit Sven Fricke, Daniel Fries, Juliane Korén und Sina Martens gut, wenn auch nicht aufregend, besetzt. Das Stück spielt so ungefähr vor 20 Jahren, der polnische Jude Adam lebt gemeinsam mit seiner alten, kranken Mutter Tereza in einer belanglosen Stadt an der deutsch-polnischen Grenze. Adam, der als Reinemachkraft in einem Kurheim für Deutsche arbeitet, nimmt ab und an betrunkene deutsche Tourist*innen aus der örtlichen Kneipe mit nach Hause. Die Konstellation dient als Allegorie: Adam und die Deutschen, die deutsche Frau Henriette und der junge Mann Rudi, und seine Mutter Tereza können sich nicht trennen. Nicht von ihrer Geschichte, nicht von ihrem Geschlecht, von Rollenzuschreibungen wie jener der fürsorglichen Mutter. Tine Rahel Völckers Text handelt von Machtstrukturen, von historischen Vermächtnissen und auch vom Wunsch nach gegenseitiger Befreiung: „Aber du bist der, der immer sagt, dass er mich hier rausholt. Ich wünschte, du würdest es mal wirklich tun! Würdest du mich einfach wie eine Reisetasche auf die Rückbank deines Wagens schmeißen, ich würde mich ja nicht wehren, im Gegenteil! Ich würde dich sogar lieben dafür.“, sagt Adam zu Rudi.
Theater der Unterbühne
Begeisterung kann das Format der Szenischen Lesung nach dem überbordenden Theatertreffen-Wochenende voller Performance und Intervention, eingequetscht zwischen den Premieren von Milo Raus „Five Easy Pieces“ und Claudia Bauers „89/90“, am letzten Sonntag nicht mehr auslösen. Für Tine Rahel Völcker, die sich mit ihrem Werkauftrags-Video und ihrem Workshop-Thema für ein „Theater der Unterbühne“ stark macht, wahrscheinlich zu verkraften. Die Stärke des Textes und sein visionäres Potential (möglicherweise zu finden in der traumartigen Dramaturgie?) werden sich zeigen, wenn sich Theater an den Text wagen – noch ist die Uraufführung frei.
Adam und die Deutschen (Die Mühle)
von Tine Rahel Völcker
Szeneische Lesung beim Stückemarkt
Einrichtung: Alice Buddeberg, Dramaturgie: Nora Khuon.
Mit: Sven Fricke, Daniel Fries, Juliane Korén, Sina Martens.