Zwei Wochen lang arbeiteten Stipendiaten des Internationalen Forums mit Autor und Regisseur Hans-Werner Kroesinger an dokumentarischen Texten über die Genozide in Ruanda und Armenien. Eine dokumentarische Collage mit Eindrücken von dem Workshop „History counts“.
Donnerstag 20. Mai, Uferstudios, Berlin-Wedding. Ich betrete einen verwinkelten Raum in einem Seitenflügel und treffe gleich auf ein paar geschäftig herumwuselnde Theatermacher. Schüchtern stelle ich mich vor, man bittet mich, Platz zu nehmen. In dem langgezogenen Raum gibt es eine kleine Sofaecke und einige dunkelgrüne Spinde, über und über mit Aufklebern aus aller Welt verziert. Ein Ende des Raums ist durch eine Wand abgetrennt, ich kann aber durch ein großes Fenster in den anderen Teil hineinschauen. An den Wänden kleben Post-It-Wolken und Notizzettelreihen, auf denen lese ich unter anderem Auszüge aus Paragraphen, zum Beispiel: „Wer vorsätzlich einen Menschen tötet §211“.
Ich setze mich an einen länglichen Tisch, auf dem sich Papierberge und Bücher stapeln, dazwischen Wasserflaschen, türkisches Gebäck und jede Menge Stifte.
Eine Gruppe von fünf Frauen sitzt an diesem Tisch, vor jeder ein dicht bekritzeltes Manuskript.
„Ich dachte, wir haben an dieser Stelle eine weinende Frau“, sagt eine. „Aber können wir das mit dem Weinen nicht so psychologisch machen?“, antwortet eine andere. „Wir nehmen einfach nur die Stimme“, erwidert die erste und zeigt auf einen abgetrennten Raumteil: „Da kann ich mich verstecken und dann so jammern…“ (aus: Notizbuch A, Alexandra Müller)
Wie verhandelt das Theater Welt? Welche Wirklichkeiten entstehen durch die Kunst des Theaters? Diese zwei Fragen stehen im Mittelpunkt des Programms des diesjährigen Internationalen Forums unter dem Motto: „Die Welt um acht. Wirklichkeiten vorstellen.“ (aus: Programmheft zum tt10)
Die Frauen am Tisch sind Teilnehmerinnen des Workshops „History Counts. Geschichte und Theater“. Zusammen mit dem Dokumentartheatermacher Hans-Werner Kroesinger haben sie die gesamte Woche über kleine Performances erarbeitet, die auf Dokumenten basieren, die sowohl Kroesinger als auch die Teilnehmerinnen zum Workshop mitgebracht haben.
„Die Völkermorde in Armenien und Ruanda sind zwei Themen, mit denen ich mich schon in anderen Arbeiten auseinander gesetzt habe“, erklärt Kroesinger die Auswahl der Themen, die im Workshop textlich und mit theatralen Mitteln durchdacht werden. „Gleichzeitig sind beide als geschichtliche Orte mit Deutschland verbunden. Mir ist es immer wichtig, dass man etwas mit dem Thema zu tun hat, das man bearbeitet.“ (aus: Entwurf zu einer Reportage, Alexandra Müller 21. Mai 2010)
Der Regisseur und Autor Hans-Werner Kroesinger recherchiert für sein dokumentarisches Theater brisante zeitgeschichtliche Stoffe. Ganz konkret verändert er daher zum Teil die möglichen Perspektiven der Zuschauer auf das Bühnengeschehen, collagiert Texte oder stellt die ganze Masse an vorhandenen Dokumenten selbst auf die Bühne. In hohem Maße eindringlich geraten selbst schlicht eingerichtete Szenarien wie die zur gescheiterten Blauhelm-Mission in Ruanda. Dabei verschränkt er das dokumentarische Material so, dass es sich gegenseitig zu kommentieren beginnt. […] „Es ist eher ein Arbeits- als ein Erlebnisangebot“, sagt Hans-Werner Kroesinger dazu.
(aus: Programmheft zum tt10)
Während ich darauf wartete, mit jemandem sprechen zu können, las ich die Überschriften der Texte, die auf den Tischen verteilt lagen. „Noah wurde ein Ackermann und pflanzte Weinberge“. „aus: Jean Hatzfeld, Zeit der Macheten“ (aus: Notizbuch A, Alexandra Müller)
Jean Hatzfeld, 1949 in Madagaskar geboren, berichtete 1994 als Journalist aus Ruanda über den Völkermord und hat das Land seitdem mehrmals besucht. (aus: http://www.perlentaucher.de/)
Ich darf bei den Proben zu zwei Performances dabei sein, die auf der Basis von Dokumenten zu den Völkermorden in Ruanda entstanden sind. Eine der Arbeiten macht die Zuschauer zu den Interviewpartnern Jean Hatzfelds. In zwei Stuhlreihen sitzen sie sich gegenüber, am Kopf der Versammlung steht eine Frau und stellt auf Englisch die Frage, ob es nicht schrecklich gewesen sei, töten zu müssen. Eine andere Frau liest daraufhin einen Auszug aus einem Interview mit einem Mann, der mit einem Messer in der Hand loszog, um zu töten. (aus: Entwurf zu einer Reportage, Alexandra Müller 21. Mai 2010)
Von Nshuti „Vielleser“ (Stuttgart) Rezension bezieht sich auf: Zeit der Macheten: Gespräche mit den Tätern des Völkermordes in Ruanda (Taschenbuch)
Wer nachvollziehen möchte, was in Ruanda 1994 passiert ist, findet hier eine wertvolle Quelle. Dadurch, dass der Autor hier Täter zu Wort kommen lässt (Eine journalistische Meisterleistung!), kann man ein bisschen den Schrecken begreifen, wozu Menschen fähig sind. Dass das keine Bettlektüre ist, versteht sich, glaube ich, von selbst. (aus: http://www.amazon.de/)
Ich erwische zwei der Performerinnen in der Raucherpause. „Wir sind oft mit der induktiven Methode an die Texte rangegangen“, erklärt mir Kathrin Mädler, Dramaturgin und Regisseurin aus Nürnberg. „Wir sind ganz schnell ins Machen gekommen, haben ausprobiert.“
„Natürlich haben wir auch viel darüber diskutiert, wie man überhaupt mit den Texten umgehen soll. Es gibt schon eine Ehrfurcht vor dem Dokument“, fügt Bettina Weiler, ebenfalls Dramaturgin, aus Karlsruhe, hinzu: „Oft waren wir überrascht, was sich transportiert, wenn man etwas ausprobiert. Ich habe mich das am Anfang auch gefragt, was sich da überhaupt vermitteln kann im dokumentarischen Theater. Das sind ja mehr als Fakten, die da auf die Bühne gebracht werden. Aber was das mehr ist, das muss man eben ausprobieren.“ (aus: Entwurf zu einer Reportage, Alexandra Müller 21. Mai 2010)
Auf Plastikstühlen, die zu einem Kreis aufgestellt waren, lagen Zettel. Textausschnitte, wieder Teile von Jean Hatzfelds Arbeit und andere. Wir setzten uns in den Kreis, in der Mitte stand eine kleine silbere Glocke, eine, wie man sie auch oft auf Hotelthresen findet. Aus den Boxen eines Laptops hörten wir einen Sprecherchor rufen: Genozide, Genozide, Genozide. Cheese Sandwich, Cheese Sandwich, Cheese Sandwich. (aus: Notizbuch A, Alexandra Müller)
Die Teilnehmer werden in die wohlverdiente Pause entlassen. Es herrscht kein Aufführungsstress oder Druck. Ob und was am Sonntag Nachmittag bei der Forums-Präsentation gezeigt wird, ist noch nicht klar. Darum geht es auch nicht.
„Es ist ein gemeinsames Lernen – ich lerne was und sie lernen auch was, hoffe ich zumindest“, erklärt mir Hans-Werner Kroesinger, während er schon beim Mittagessen sitzt. (aus: Entwurf zu einer Reportage, Alexandra Müller 21. Mai 2010)
»Dokumentartheater der sechziger und siebziger Jahre sind umgehend beizulegen! Tatsächlich hat man sich Kroesinger als genaues Gegenteil eines politisch eifernden Missionars vorzustellen. Statt vermeintliche Wahrheiten zu postulieren, geht es ihm darum, die Mechanismen offenzulegen, nach denen solche ›Wahrheiten‹ konstruiert werden – und in wessen Interesse.« (Der Spiegel) (aus: http://www.schaefersphilippen.de/)